CD-Box MISHA DICHTER – The Complete RCA Victor Recordings; Sony Classical
Rohdiamant
Die Wiederveröffentlichung der frühesten Aufnahmen des Pianisten Misha Dichter bieten eine gute Gelegenheit, an diesen exzeptionellen Tastentiger zu erinnern. Er wurde 1945 in Shanghai geboren, wohin seine polnisch jüdischen Eltern vor den Nazis geflohen waren. 1947 ging die Familie nach Los Angeles. Studien bei der Arthur Schnabel Schülerin Aube Tzerko und an der Juilliard School bei der legendären Rosina Lhévinne folgten. Eine Silbermedaille beim Tchaikovsky Klavierwettbewerb in Moskau 1965 brachte dem 20-jährigen u.a. einen Plattenvertrag bei RCA Victor ein.
Das Debütalbum bestand aus Tchaikovskys b-Moll Konzert, das Dichter gerade mit dem Boston Symphony Orchestra in Tanglewood unter der musikalischen Leitung von Erich Leinsdorf gespielt hatte. Obwohl Leinsdorf das berühmte Stück erst 1963 mit Arthur Rubinstein aufgenommen hatte, ließ er nochmals die Mikros ran. Das musste einen Grund haben. Hat es auch. Hören Sie nur die fein abgestuften lyrischen Qualitäten von Dichters Spiel und Sie werden staunen. Keine Berserker sind da am Werk, sondern zwei bestens aufeinander vertrauende, für heutige Begriffe modern agierende Musiker.
Leinsdorf sachlich sehniges, enorm konzentriertes Dirigat mit einem sagenhaften Drive im Allegro con spirito des ersten Satzes wie Dichters jugendliches Drängen und poetisches Sehnen machen aus dieser Aufnahme ein ganz großes Ereignis. Sie gefällt mir von allen Aufnahmen des Stücks, die ich kenne am besten, eben weil hier nichts plakativ überdröselt bzw. einem „Schau-her-Zirkus“ ähnelt. Im Gegenteil, das ist hier Musik pur in ihrer nobelsten Form, lyrisch und spannungsvoll, klar, präzise und am Ende im Allegro con fuoco wie ein feuriger Orkan comme il faut. Dichter kommt beinahe ohne Pedal aus und Leinsdorf kontert mit sparsam eingesetzten Rubati, was diesem so oft gnadenlos mit fettem Pathos überschmierten Stück unendlich guttut. Die Aufnahme entstand im Dezember 1966 in der Boston Symphony Hall. A propos wundersame Tonträgergeschichte: 1966 erschien die Aufnahme des Tchaikovsky Klavierkonzerts in b-Moll des 16-jährigen Grigory Sokolov bei Melodija/Angel/Eurodisc.
Ein Jahr später entstand Misha Dichters zweites Album mit drei Intermezzi von Johannes Brahms, Op. 118/1, 118/2 und 116/4, dem Capriccio in cis-Moll, Op. 76/5 und der Rhapsodie in Es- Dur, Op. 119/4, ergänzt um drei Sätze aus Igor Stravinskys „Petrushka“. Während wir Stravinskys vernichtendes Urteil (dem auch ein V. Horowitz nicht entging) über die Aufnahme – Stravinsky lebte in der Straße von Dichters Eltern und wurde mit dem tape der Aufnahme zwangsbeglückt – nicht teilen, so überzeugt die Melange zwischen messerscharfer technisch rhythmischer Brillanz und impressionistisch malerischen Einschüben dennoch nicht ganz. Da stehen harte Anschlags-Brüche im Vordergrund, steht das eine neben dem anderen, was man natürlich ihrer verwegenen Modernität wegen auch mögen kann. Rein spieltechnisch ist die Aufnahme der Wahnsinn!
Hingegen gefallen mir die jugendlich unbekümmerten, noch nicht zurecht geschliffenen (Rhapsodie in Es-Dur), individuell in Rubati versunkenen (Intermezzo in E-Dur), dann wieder ungestüm dahinhetzenden, vielleicht von manchen als manieriert gesehenen Interpretationen der Brahms-Stücke (hören Sie das launig extrovertierte Capriccio) durchwegs sehr gut. Jedenfalls ringt Dichter damit jedem offenen Ohr Neugier und das Testat von romantischer Einfühlung in die Vorlagen ab.
Polierter und ausbalancierter erleben wir Franz Schuberts Johann Nepomuk Hummel gewidmete Klaviersonate in A-Dur, D 959. Wie Jed Distler berichtet, gingen der Publikation mehrere gemeinsam mit den Aufnahmeingenieuren erprobte Versionen voraus, weil zuerst die Mikros zu nahe posiert waren, was einen direkt nüchternen Eindruck nach sich zog. Weil Dichter das Ideal Schnabel im Sinn hatte, musste ein modus vivendi für einen wärmeren, andeutungsaffineren Klang gefunden werden. Wie Recht er hatte. Was für Bach-Cembalo-Aufnahmen wahrscheinlich passend bzw. derart für manche Musikfreunde sich als ideal erweist, muss für Schubert noch lange nicht gelten.
Stupend ist die Klarheit, mit der Dichter die Chiaroscuro Stimmungen pianistisch transparent und mit überlegener Sachlichkeit herausarbeitet. Polyphone Form vor endzeitlichem Pathos. Nach der weiträumig geatmeten, überirdischen Raum-Zeit-Transzendenz des zwischendurch fatalistisch aufschreienden Andantino (wie sehr erinnert mich Dichter hier an Sokolov), lässt Dichter das darauffolgende Scherzo mit koboldhafter Zunge plaudern. Der Rondo-Beginn hätte ein wenig mehr an Forschheit durchaus vertragen, allerdings entschädigt Dichter mit einem Allegretto in lichter Erhabenheit und ostinat unterschwelliger Unruhe. Ja nicht jedes Piano ist substanzvoll und gesonderte Gefühle der Erschütterung werden hier nicht strapaziert. Aber aussagekräftig bleibt die Begegnung mit dieser Lesart dennoch.
Dieses dritte Album startet mit Ludwig van Beethovens Andante in D-Dur, dem „Andante favori“. Mit welcher Zartheit und liedhafter Schlichtheit, dynamisch konstant, hier Dichter zu Werke schreitet, könnte als elfisch imaginiert werden, dieser jahreszeitlich sich wandelnden Sprache von ephemeren Au- und Waldgeistern. Ich habe diese Wesen zwar auch noch nie vernommen, aber so könnten sie klingen.
Empfehlung nicht nur für historisch Interessierte, eben weil es da noch Ambivalenz und Rohheit gibt, aber die Alben in ihrem jugendlichen Ungestüm als äußerst ehrlich empfunden wirken. Da trägt einer sein Herz noch auf der pianistischen Zunge. Wie rar.
Dr. Ingobert Waltenberger