CD-Box JASCHA HORENSTEIN – REFERENCE RECORDINGS; Profil Hänssler
„Musik als Explosionsstoff“
Die vorliegende Box stellt den Dirigenten Jascha Horenstein auf 10 CDs in markanten monauralen Aufführungen der 50-er und frühen 60-er Jahre vor. Der Live-Mitschnitt von Gustav Mahlers Dritter Symphonie in d-Moll 1961 mit dem London Symphony Orchestra und Chor sowie der Altistin Helen Watts gilt so manchem als die bedeutendste, bisher nicht egalisierte Referenzaufnahme. Die technische Qualität, Plastizität und Räumlichkeit des Klangbildes sind stupend. Die erste Symphonie von Gustav Mahler hingegen ist in einer Aufnahme mit dem Pro Musica Orchester Wien aus dem Jahr 1953 zu hören. Dieses „Kamikaze“ Orchester sprüht zwar vor Energie, aber da geht es bisweilen ganz unfassbar drunter und drüber. Töne im Ungefähren und grobes Blech türmen sich zuhauf. Rein technisch ist jedes dt. Sinfonieorchester um die berühmten Eckhäuser besser. Aber auch das Orchestre Radio Symphonique Paris schwindelt sich 1954 bei Paul Hindemiths Symphonie „Mathis der Maler“ mehr schlecht denn recht durch die Partitur. Dennoch sprengt der dritte Satz „Die Versuchung des Hl. Antonius“ in seiner archaischen Wucht jede Konvention. Das sind die zwei extremen Pole, zwischen denen die hier vorgestellten Aufnahmen in ihrer künstlerischen Qualität, aber auch vom technischen Vermögen der Klangkörper und der je nach Aufnahme variablen Aufnahmetechnik her schwanken.
Dabei gilt es, einen der interessantesten und von seiner Bedeutung gerade auch für das Repertoire des 20. Jahrhunderts so wichtigen Musiker neu zu entdecken und unvoreingenommen von allem, was im Internet über ihn an Begeisterung und Relativierendem zu finden ist, zu hören.
Als 13. von 16 Kindern in einer musikliebenden jüdischen Familie in Kiew geboren, sind die weiteren Lebensstationen von Jascha Horenstein Königsberg, Wien, wo er bei Joseph Marx, Franz Schreker (Komposition) und bei Adolf Busch (Violine) studierte und schließlich mit Schreker nach Berlin ging. Horensteins Tätigkeit als Dirigent beginnt als Nachfolger Hermann Scherchens bei dem Arbeiter–Chor Groß-Berlin und dem Berliner Schubert–Chor. Sein Debut als Orchesterdirigent gibt er 1923 bei den Wiener Symphonikern u.a. mit Gustav Mahlers 1. Symphonie. Wilhelm Furtwängler wird auf den talentierten jungen Dirigenten aufmerksam, macht ihn zeitweilig zu seinem Assistenten.
Mit dem Orchester der Staatsoper Berlin sind 1928 die ersten Schallplattenaufnahmen entstanden. In Düsseldorf wurde Horenstein 1929 der Posten eines GMD an der Oper übertragen. Eine Wozzeck-Aufführung begeisterte den Komponisten Alban Berg über die Maße. Vor den Nazis floh Horenstein zuerst nach Frankreich, von 1934-1937 arbeitete er mit den Orchestern von Leningrad und Moskau,1939 ging er nach New York. Nach künstlerischen Enttäuschungen – nicht alle Exilkünstler waren hochwillkommen und ihrem Rang entsprechend mit adäquaten Aufgaben betraut – kehrte Horenstein 1947 nach Europa zurück. Paris, Wien, Bamberg, Baden-Baden (Südwestfunk) sowie London (London Symphonie Orchestra) bildeten die weiteren markanten Karrierepunkte.
Expressionistische, unter Starkstrom stehende Interpretationen stellen im Kern Horensteins künstlerisches Markenzeichen dar. Die Wiener Hoch- bzw. Spätromantiker Bruckner und Mahler sowie die nach heutigen Begriffen gemäßigte Moderne (u.a. Schoenberg, Hindemith, Stravinsky, Bartók, Janacek) bilden sein bevorzugtes Repertoire. Dynamisch verfügte er über eine enorme Bandbreite und ließ sich in kein Schema pressen. So gerieten etwa seine auf der Box enthaltenen Einspielungen von Janaceks „Taras Bulba“ und der „Sinfonietta„ in ,Knappertsbusch‘ epischer Breite. Dass Wilhelm Furtwängler und Bruno Walter Horensteins künstlerische Idole waren, ist klar erkennbar, besonders vielleicht in seinem Verständnis von Stücken aus der Feder von Richard Strauss oder Richard Wagner. Hier hat Horenstein maßgebliche Einspielungen hinterlassen, wie anhand der in der Box enthaltenen Deutungen von „Don Juan“, „Tod und Verklärung“ oder auch den Vorspielen zu „Lohengrin“ und „Tristan und Isolde“ (alle vier genannten mit den Bamberger Symphoniker 1954), bzw. Wagners „Faust Ouvertüre“ (Südwestfunk-Sinfonieorchester Baden-Baden 1956) nachgehört werden kann.
Als Rarität willkommen, können die frühen musikalischen Talente von Horenstein mit der 1928 in Berlin entstandenen Aufnahme von Mahlers „Kindertotenlieder“ mit dem wunderbar eigentimbrierten deutschen Kavaliersbariton Heinrich Rehkemper überprüft werden. Besonders interessant und aufregend gut gespielt ist zudem die „Schottische Fantasia“ von Max Bruch mit David Oistrakh als Solisten und dem London Symphony Orchestra aus 1962. Das Südwestfunk-Sinfonieorchester Baden-Baden ist mit mustergültigen Einspielungen von Stravinsky „L‘oiseau de feu“ und Schoenbergs „Verklärter Nacht“ repräsentiert. Bewunderer der Kunst von Claudio Arrau wird das erste Klavierkonzert von Johannes Brahms aus dem Jahr 1962 begeistern.
Was Horensteins Anton Bruckner-Verständnis betrifft (in der Box ist die Aufnahme der achten Symphonie in c-Moll mit dem wild drauf los preschenden Pro Musica Orchester Wien aus dem Jahr 1954 enthalten), so möchte ich seinen Cousin Misha zitieren: „ You felt the vast spaces unfolding like an epic story, cathedrals of sound contrasted with the most delicate and danceable trios and ländlers. Because of H’s use of a very wide dynamic range you sometimes had to strain your ears to hear what was going on, at other times it was so loud you could only laugh in disbelief. Crescendos and decrescendos were breathtaking, you held your breath during transition sections not daring to even breathe. Robert Simpson said Horenstein had mastered the art of making the listener wait, and this was especially true in Bruckner.“
Schallplatteneinspielungen machte Horenstein außer mit den auf der Box vorgestellten Orchestern mit den Wr. Symphonikern (Vox), mit dem BBC Symphony Orchestra (live), mit dem (Vox), mit dem Danish State Radio Symphony Orchstra (live), den Berliner Philharmonikern (Polydor), dem Orchester der Wiener Volksoper (Vox), dem BBC Northern London Symphony Orchestra, dem London Philharmonic Orchestra (Emi), dem Stockholm Philharmonic Orchestra (live), dem New Philharmonia Orchestra (Unicorn) und dem Royal Philharmonic Orchestra. Ein kurioses Details: Horenstein spielte für Vox Bachs „Brandenburgische Konzerte“ ein, schon sehr früh und sehr flott auf historischen Instrumenten. Damals waren Nikolaus Harnoncourt und Wolfgang Schneiderhahn im Orchester.
Ich empfehle die Box erstens pädagogisch zur Schärfung der Wahrnehmung für uneitle, immer am persönlichen Anschlag balancierende Interpretationen. Aber auch wer äußersten Mut zu individuellen Zugängen sowie hochspannendes, nicht unbedingt auf Hochglanz poliertes Musizieren schätzt, wird hier grandios fündig werden.
Dr. Ingobert Waltenberger