CD-Box HERBERT VON KARAJAN – THE EARLY LUCERNE YEARS 1952-1957 – mit bislang unveröffentlichten Live-Mitschnitten aus Luzern; AUDITE
Veröffentlichung: September 2023
Audite wird 50 Jahre alt – Wir gratulieren!
Audite ist dank seiner Firmenphilosophie, der vielfältigen Produktions- und Publikationsaktivitäten und dem überaus engagierten Ludger Böckenhoff sehr, sehr jung geblieben. Das Label wurde 1973 von Friedrich Mauermann in Stuttgart gegründet. „Hervorragende Interpretationen von entdeckenswertem Repertoire in größtmöglicher Qualität einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen“ – diese Labelpolitik macht laut Website des Unternehmens von Beginn an gleichermaßen Arbeit und öffentliche Wahrnehmung des Labels aus. Zuerst einmal waren die künstlerisch herausragenden Live-Mitschnitte der Symphonien Gustav Mahlers mit Rafael Kubelik und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks dran.
Das Arbeitsfeld von audite ist im Lauf der Zeit wesentlich breiter geworden: Es teilt sich – wie etwa auch dasjenige von hänssler-profil – in die Wahrung des historischen akustischen Erbes, basierend auf den Originalbändern diverser Rundfunkanstalten und Neuveröffentlichungen. Ich befasse mit seit sicherlich 20 Jahren mit den CDs von audite und kann dem Verlag nur das beste Zeugnis, was die Auswahl der Titel, die Optimierung von Klangqualität mittels behutsamer Remasterings, begleitende umfassende Hintergrundinformationen, tolle Fotos und die Promotion exzellierender Künstler für Neuaufnahmen (z.B. Mandelring Quartett, Quartetto di Cremona) anlangt.
Der aktive Katalog des Labels umfasst etwa 300 Titel, pro Monat werden ein bis zwei Neuveröffentlichungen präsentiert. Bei Audite gibt es Musik in den Formaten SACD (5.1.Surround), CD und LP zu hören. Natürlich gehören dem Zeitgeist entsprechend selbstverständlich das Angebot von Downloads sowie Videotrailer zum unverzichtbaren Bestandteil der Veröffentlichungen.
Sammler werden die Editionen zu Wilhelm Furtwängler und den Berliner Philharmonikern, Sergiu Celibidache, Hans Knappertsbusch, Otto Klemperer, Friedrich Gulda, Géza Anda, Dietrich Fischer-Dieskau, Ferenc Fricsay, Karl Böhm oder Herbert von Karajan zu schätzen wissen.
Letzterem ist in einer Jubiläumsausgabe die CD-Box „The Early Lucerne Years 1952-1957“ den besten Aufnahmen der Zeit von den Internationalen Musikfestwochen Luzern gewidmet. Passend dazu wird als Bonus track exklusiv als download auf audite.de ein Mitschnitt der h-Moll Messe von Johann Sebastian Bach mit den Solisten Elisabeth Schwarzkopf, Elsa Cavelti, Ernst Haefliger und Hans Braun mit den Wiener Symphonikern und dem Wiener Singverein vom September 1951 angeboten. Ich finde diese Aufnahme geradlinig schlank mit einem fantastischen Gespür für Spiritualität und dramatischer Schürzung zugleich, kontrapunktisch minutiös artikuliert, musiziert. Das Einzige, was heute sicher nicht mehr durchginge, sind die Portamenti/Schleifer von Cavelti und Braun.
CD 1 beginnt mit einem echten diskografischen Paukenschlag: Am 16. August 1952 hat Karajan in Luzern Ludwig van Beethovens „Achte“ Symphonie in F-Dur Op. 93 und Mozarts Klavierkonzert in c-Moll, KV 491 mit Robert Casadesus als Solisten dirigiert. Künstlerisch sensationelle, gleichsam unter Starkstrom stehende, energetisch vibrierende Aufnahmen, die bisher im Archiv von Swiss Radio und Television SRF schlummerten und uns zeigen, was einst den Dirigenten Karajan und sein nachschöpferisches Gespür ausmachten. Es war der Sommer, in dem Karajan zuletzt bei den Bayreuther Festspielen als Dirigent von Richard Wagners „Tristan und Isolde“ mit Martha Mödl und Ramon Vinay in den Hauptrollen auftrat. Die Premiere, von der der in vielen Editionen publizierte Bayreuther Live-Mitschnitt stammt, fand am 23.7.1952 statt. Weitere Vorstellungen folgten am 7.8. und am 20.8. 1952, also nur vier Tage nach dem ebenso denkwürdigen Auftritt in Luzern.
Ja, es stimmt, es herrscht in diesen Aufnahmen stets eine außerordentliche Klarheit der Struktur, wie das in dem sehr lesenswerten Beitrag von Wolfgang Rathert (2024 erscheint seine Monografie „Herbert von Karajan. Macht – Ohnmacht – Vermächtnis“) im Booklet ausgeführt wird. Aber es geht um mehr. Ich finde, dass Karajan in seinen unmittelbar auf den Krieg folgenden Jahren, wie das anhand unzähliger Tondokumente nachzuhören ist, in seinen Interpretationen eine ganz besondere Musizierkultur repräsentierte: Dramaturgie und Binnenspannung vor Schönklang. Orientiert an einer dem Notenbild inhärenten Sachlichkeit, Transparenz, schlank-sehnigem Klang, rhythmischer Schärfe, dynamischer Polarität, der demiurgischen Gestaltung thematischer Bögen (ich denke da an feuchtem Ton zwischen den Händen), in sich schlüssigen Tempi bei sparsamem Umgang mit Rubati und expressiver Artikulation/Zuspitzung der Höhepunkte war Karajan kaum zu überbieten. Er erfüllte damals viel von dem, was Harnoncourt in etwa unter dem Wort „Klangrede“ suggerierte, konnte ebenso spontan Leidenschaftlichkeit und Drive an den Tag legen wie ein Formel 1 Fahrer, um im nächsten Moment äußerst sensibel und behutsam auf Eigenheiten von geschätzten Sängern und Solisten zu reagieren.
Karajan entsprach zu Beginn seiner Karriere – ich kenne Aufnahmen von den dreißiger Jahren bis zu den letzten, die er unternommen hat – eher den künstlerischen Profilen eines Toscanini oder Clemens Krauss. Später experimentierte er mit verschiedenen ästhetischen und aufnahmetechnischen Wirkungen des Klangs (vor allem im Studio), um im Alter einen kosmischen Mischklang zu präferieren, der wiederum faszinierend sein konnte. Karajan war karrieremäßig ein Antipode zu Wilhelm Furtwängler. Allerdings hatten sie im romantischen deutschen Fach (bei Karajan traf dies sicher auch auf die gemäßigte Moderne und Italienisches zu) eines gemeinsam: In ihren besten Momenten drangen ihre Interpretationen bis zum glühenden Kern musikalischer Wahrhaftigkeit vor und legten metaphysische Strukturen frei.
Beim frühen „Luzerner“ Karajan überwältigt die Kombination aus Vitalität und Differenzierung. Klarheit im Aufbau und eine in unerhörte Extreme getriebene Ausdrucksintensität sorgen für einzigartige Musikerlebnisse. Hören Sie sich etwa die beiden Ecksätze mit der Bezeichnung ‚Allegro vivace e con brio‘, das Menuett und das rasante Rondo im vierten Satz der bereits erwähnten „Achten“ von Beethoven 1952 an. Die Interpunktionen, die Schärfe der Akzente, die Dosierung der Klangebenen, die Feinheit der Nuancen, die kontrastreiche und in diesem Fall ganz im Sinne Beethovens übersteigerte Realisierung der Vortragsbezeichnungen reißen derart mit, dass ich jetzt neben der legendären René Leibowitz Aufnahme mit dem Royal Philharmonic Orchestra eine zweite Lieblingsplatte dieser „Kleinen F-Dur“, verkürzt dieses das 18. Jahrhundert so wundervoll humorvoll ironisierenden Stücks, habe.
Ähnlich erbaut das so lichttrunken schwebende, parallel zu „Le nozze di Figaro“ entstandene Klavierkonzert in c-Moll von W.A. Mozart mit einem unbeschreiblich feinfühligen und unangestrengt virtuosen Robert Casadesus als Solisten.
Das dritte Stück auf CD 1, Johann Sebastian Bachs flott und barock beschwingt dirigiertes „Konzert für zwei Klaviere und Orchester in C-Dur, gab es schon auf einer anlässlich des 100. Geburtstags des ungarischen Pianisten Géza Anda veröffentlichten Audite-CD zu hören, auf der dessen Luzerner Konzertmitschnitte öffentlich zugänglich gemacht wurden.
Weitere Highlights der kleinen Box sind die duftigen Naturschilderungen in Ludwig van Beethovens Symphonie Nr. 6 in F-Dur, Op. 68, vor allem das 3 Minuten 23 kurze, dafür umso heftiger donnernde Gewitter im 4. Satz der „Pastorale“. Auf CD 3 finden wir Aufnahmen des Violinkonzerts von Johannes Brahms in D-Dur Op. 77 mit einem kraftvoll zupackenden wie poetisch sein schönstes Lied singenden Nathan Milstein vom 17. August 1957 und dem Schweizer Festivalorchester, aber vor allem eine umwerfende Kostprobe dessen, wie kompromisslos und knallharte Entladungen nicht scheuend Karajan an ein Meisterwerk der klassischen Moderne herangegangen ist.
Arthur Honeggers Symphonie Nr. 3 „Liturgique“ für großes Orchester, bestehend aus den drei Sätzen ‚Dies irae‘, De profundis clamavi‘ und ‚Dona nobis pacem‘ begeisterte wohl nicht nur den heute Moderne-Musik Spezialisten Heinz Holliger, der nach dem Konzert als Gymnasiast an Paul Sacher schrieb, dass ihm das Konzerterlebnis mehr als der schönste Gottesdienst bedeutete. Das holzschnittartige ‚Allegro marcato‘ erschüttert mit der Beschwörung höllischer Qualen und metallisch schneidenden Rhythmen, während im utopisch wirkenden Schlusssatz der Idee von innerem und äußerem Frieden nachgegangen wird. Im September 1969 hat Karajan Honeggers „Liturgique“ mit den Berliner Philharmonikern für die Deutsche Grammophon in der Berliner Jesus Christus Kirche aufgenommen.
Ich finde, der Zürcher Musikschriftsteller Willi Schuh trifft sehr viel von dem, was sich auch von diesen ausgewählten veröffentlichten Aufnahmen 1952-1957 mitteilt, als er nach dem ersten Luzern Konzert von Karajan am 25. August 1948 schrieb: „Die ungeheure Energie, die von diesem Intelligenz und Vitalität auf eine sehr persönliche Weise in sich vereinigenden, agilen und eher schmächtigen Mann ausgeht, die Konzentriertheit seines durch einen fanatischen Zug gekennzeichneten Wesens mussten auch bei uns auf Orchester und Publikum eine faszinierende Wirkung ausüben.“
Karajan und Luzern, das war eine künstlerische Erfolgsgeschichte und mehr als das. Dass ihn die Internationalen Musikfestwochen Luzern zu ihrem 10. Jubiläum 1948 einluden, markierte nach der „Entnazifizierung“ die Rückkehr auf die internationale Konzertbühne und den ersten Auftritt in der Schweiz überhaupt. Karajan sollte Luzern die Treue halten. Jedes Jahr (außer 1960) bis 1988 kam er allsommerlich nach Luzern für zwei Konzerte und dirigierte anfangs vor allem das Schweizerische Festspielorchester, später auch die Wiener Symphoniker und das Philharmonia Orchestra. Natürlich waren auch die Berliner und Wiener Philharmoniker und einmalig das Cleveland Orchestra mit von der Partie.
Luzern steht aber auch für die künstlerische Vielfalt und Karajans umfassendes musikalisches Wirken: So gab Karajan in Luzern 1955 einen Dirigierkurs in der Lukaskirche, in Luzern debütierte 1976 die 13-jährige Anne-Sophie Mutter mit Mozarts G-Dur-Konzert. In Luzern entdeckte Karajan den Geiger Michael Schwalbé und machte ihn zum Konzertmeister der Berliner Philharmoniker. In Luzern war Karajan 1954 Mitglied einer Jury für einen Alphornwettbewerb. Auf einem herrlich witzigen Foto des Festspielarchivs ist Karajan mit Walter Gieseking, dem damaligen Festspielpräsidenten Walter Strebi und Walter Legge zu sehen, wo sich alle zerkugeln vor lauter Lachen. Das war die Zeit, wo man mit Karajan nach einer Aufführung etwa in Mailand noch in die nächste Trattoria gehen konnte, wie mir Martha Mödl einmal erzählte….
Anmerkung: Meine Begeisterung für Karajan ging besonders nach den subjektiv bis heute nicht mehr getoppten Opernerlebnissen von „Il Trovatore“, „Le nozze di Figaro“, „Don Carlo“ und „La Boheme“ 1976/77 in Wien so weit, dass ich, bevor Karajan in Wien sein spätes Mozart Requiem samt Plattenaufnahmen für die Deutsche Grammophon dirigierte, kurzerhand vor einer Kommission im Großen Goldenen Saal als Basschorist vorsang. Nach Robert Schumanns „Die beiden Grenadiere“, Brahms Requiem „vom Blatt singen“ und ein paar Skalen später nahm mich Helmut Froschauer mit der freundlichen Frage „Bei wem lernen’s denn?“ auf. Da war Karajan motorisch schon beeinträchtigt, aber der Wille und die Augen reichten, um den Mitwirkenden mitzuteilen, wo es langgeht.
Für die Statistiker: Wolfgang Rathert erwähnt in seinem Aufsatz „Klarheit der Struktur“ die Quantität der von Karajan dirigierten Konzerte: „Zieht man Karajans frühe offensichtlich beachtliche Auftritte als Klaviervirtuose zwischen 1917 und 1922 ab, ergibt sich die offizielle Zählung des Salzburger Karajan Instituts die unglaubliche anmutenden Zahl von 3.392 Dirigaten in den sechs Jahrzehnten von 1928 bis 1989, mithin ein Durchschnitt von 55 Konzerten pro Jahr. Und zu diesem Pensum kam ja Karajans nicht minder imposante, geradezu obsessive Aufnahmetätigkeit mit 2.333 kommerziellen Einspielungen sowie sein Wirken als Opern- und Filmregisseur noch dazu.“
Dr. Ingobert Waltenberger