CD-Box: GEORGES PRÊTRE dirigiert das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart – SWR RECORDINGS 1991-2004; SWRmusic
Jubiläumsedition zum 100. Geburtstag des Dirigenten am 14. August 2024
Wer wissen will, wie George Prêtre als nachschöpferischer Musiker und einfühlsamer Teamplayer war, der sollte sich das Probenvideo zu Debussys „Prélude à l’après-midi d’un faune“ mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart ansehen.
https://www.youtube.com/watch?v=52sGTrO7neg
Gleich zu Beginn die großartige Flötistin Gaby Pas-van Riet: Prêtre schließt die Augen und lässt sich mit einem seligen Lächeln auf den Lippen durch den Beginn des Solos tragen. Dann folgen präzise Anweisungen, wie diese rätselhaft traumumflorte Eingangsmmelodie rhythmisch, in den Rubati und farblich geformt werden könne. Und immer wieder freut sich Prêtre sichtlich, wenn etwas so kommt, wie er es sich imaginiert. Dann mit dem Orchester. Die Probenatmosphäre ist stets konzentriert, zwischendurch macht er kleine Scherze zur Auflockerung. Er ist voller Wertschätzung für die Instrumentalisten, Ungeduld oder gar Grant sind ihm fremd. Jede Emotion ist seiner Mimik abzulesen, die Mitwirkenden müssen unbedingt hinschauen, um seinen Intentionen folgen zu können.
Der Rezensent ist in diesem Fall Zeitzeuge, weil er als Bassist der Wiener Singakademie mit den Wiener Symphonikern an drei Chor-Orchesterprogrammen im Wiener Konzerthaus unter Prêtres Stabführung mitgewirkt hat (31.12.85, 1.1.86 neunte Symphonie von Beethoven, 19./20.10.1988 Psalm 23 von Alexander Zemlinsky und 14./15.5.2003 Grande Messe de Morts Op. 5 von Hector Berlioz). Kaum je habe ich einen höflicheren, generöseren und in der Sache verbindlicher vermittelnden Dirigenten erlebt als ihn. Eine Aura von Noblesse umgab Prêtre, stets war er auf französische clarté, Wachheit des Augenblicks und klangsinnliches Genießertum zugleich bedacht. Ein Phrasierungskünstler sondergleichen war Prêtre, der jedem Stück und jedem Orchester so etwas wie einen individuelle Ausdruckselastizität und ein spezifisches Kolorit entlocken konnte. Besonders sind mir die Proben zur Neunten Beethoven erinnerlich. Prêtre vermochte es, die Sterne aus einem abstrakten Nirwana zu holen und den utopischen Kuss der ganzen Welt auf ein Maß zu bringen, damit es menschlich verständlich und nachvollziehbar blieb.
Wer die acht CDs hört, wird feststellen, dass Prêtre, ein „Mann der vielen Gesichter“, aus dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR, einem der besten Rundfunkklangkörper überhaupt, einen stilistisch wandelbaren Klang herausholen konnte, je nachdem, ob er Berlioz, Bizet oder Ravel, Beethoven, Brahms oder Bruckner, Respighi oder Richard Strauss dirigierte. Dazu kam, dass Prêtre als genuiner Opern- und Konzertdirigent von beiden Genres während der Arbeit am jeweils anderen profitierte.
Was den Bau innerer Spannungsbögen und tiefgreifender musikalischer Sinngebung, ferner die Kunst der sanften Übergänge anlangt, so erinnerte mich Prêtre an einen anderen Großen seiner Zunft, der ebenfalls symphonische Musik – organisch geatmet – sich entwickeln und fließen lassen konnte, nämlich Sergiu Celibidache. Auch dessen Karriere gestaltete sich ähnlich abwechslungsreich.
Der in Waziers nahe der nordfranzösischen Stadt Douai geborene Georges lernte zuerst Klavier und Trompete, bevor er sich als Komponist versuchte. Manchmal ist er in seinen Anfängen als Trompeter in Jazzclubs an der Seite von Edith Piaf und Yves Montand aufgetreten.
Als prägender Dirigentenlehrer gilt André Cluytens. Für seine Schlagtechnik hätte er zwar keinen Preis gewonnen, wohl aber für seine mitreißende Begeisterungsfähigkeit und fantastische Gestaltungskraft. Am Pult debütierte Prêtre mit 22 Jahren an der Oper in Marseille. Weitere Stationen absolvierte er bzw. führten ihn nach Lille und Toulouse, an die Opéra Comique, die Opéra national de Paris, an die New Yorker Met, die Lyric Opera of Chicago und die Scala di Milano. Prêtre dirigierte die meisten der großen Orchester dieser Welt, 1986 wurde er zum Ersten Gastdirigenten der Wiener Symphoniker gewählt, 1996 zum Chefdirigenten des Radio-Sinfonieorchester Stuttgart ernannt.
Die auf der Box präsentierten Live-Aufnahmen stammen aus den Jahren 1991 bis 2004. Egal welches Werk man hört, mehrheitlich gelingen dem französischen Maestro exquisite Interpretationen (Strauss, Mahler, Ravel, ich liebe seinen Brahms!), denen er mit seinem untrüglichen Gespür für Farbkomposition, Balance und Eleganz einen persönlichen Stempel verlieh. Welches Fluidum, welch dichte Atmosphäre Prêtre schaffen konnte! Zusätzlich zu einer nie in Abrede gestellten Partiturtreue nutzte er Interpretationsspielräume und konnte dabei unerschütterlich aus seiner instinktiven Musikalität, der eigenen künstlerischen Wahrhaftigkeit schöpfen.
Obwohl aus einfachen Verhältnissen stammend, war Prêtre als Künstler und Mensch ein Aristokrat. Wer Spektakuläres, Effekthascherisches, harte Kontraste oder Taktgerades hören will, muss woanders suchen. Aber diejenigen unter den Musikfreunden, die über formale Klarheit hinaus auf die feine Klinge in Dynamik und Temporegie Wert legen, die im kleinen modellierte Klangvaleurs, eine dem Atem folgende weite Phrasierung einer großen Künstlerseele und sanglich-atmosphärisches Klangwogen (Prêtre schätzte die menschliche Stimme über alles) schätzen, liegen mit dieser Box goldrichtig.
Inhalt der Box:
- Ludwig van Beethoven: Symphonie Nr. 3 Es-Dur op. 55 (28./29.9.1995); Egmont-Ouvertüre op. 84 (6.10.1995)
- Johannes Brahms: Symphonie Nr. 1 c-moll op. 68 (8.12.2000); 4 Ungarische Tänze (29.31.10.1997)
- Anton Bruckner: Symphonie Nr. 4 Es-Dur WAB 104 „Romantische“ (Version 1878 / 80) – aus dem Brucknerhaus Linz 22./23.9.1995
- Hector Berlioz: Symphonie fantastique op. 14 (24.25.3.1994); Ballet des Sylphes & Marche hongroise aus La Damnation de Faust op. 24 (14./16.2.2001)
- Maurice Ravel: Daphnis et Chloe-Suite Nr. 2 (29./31.10.1997); La Valse (22.12.1995)
- Georges Bizet: Symphonie C-Dur (28.6.1991)
- Antonin Dvorak: Symphonie Nr. 9 e-moll op. 95 „Aus der neuen Welt“ (14./28.10.1996)
- Gustav Mahler: Totenfeier (24./26.10.1998)
- Ottorino Respighi: Fontane di Rome; Pini di Roma (21./22.10.2004)
- Igor Stravinsky: L’Oiseau de feu-Suite1919 (8.12.2000)
- Richard Strauss: Rosenkavalier-Suite op. 59 (Wien Musikverein, 2.10.1998); Till Eulenspiegel op. 28 (31.10.1997); Don Juan op. 20 (29.91995)
Dr. Ingobert Waltenberger