CD-Box: GABRIEL FAURÉ: Sämtliche Klavierwerke mit LUCAS DEBARGUE; Sony
Hommage zum 100. Todestag des Komponisten 2024 – der sanfte Revolutionär
„In den 60 Jahren, in denen sich Fauré mit dem Klavier beschäftigt, entwickelte er eine regelrechte Philosophie des Klavierstils, sowohl sinnlich als auch geistig. Es gelang ihm, die Romantik in die Moderne zu führen, ohne die Errungenschaften der vergangenen Jahrhunderte über Bord zu werfen.“ Debargue
Was für ein hochmusikalischer Pfundskerl unter den jüngeren Pianisten dieser Lucas Debargue ist, hat er spätestens mit der Einspielung von Klaviersonaten des Domenico Scarlatti 2018 (ebenso eine 4 CD-Box, bei Sony erschienen) endgültig unter Beweis gestellt. Dabei könnten die Anforderungen an den Interpreten, was Anschlagsnuancen, Rubati, Dynamik etc. anlangt, bei Scarlatti bzw. bei Fauré unterschiedlicher nicht sein.
Was diese Box neben der enzyklopädischen Fülle von 68 Stücken mit der Option der Verfolgbarkeit der Entwicklung der pianistischen und kompositorischen Mittel über des Komponisten jahrzehntelange künstlerische Lebensspanne und dem buntgläsernen, lichtdurchfluteten, berückend entrückten Klavierspiel des Franzosen so einzigartig macht, ist die Wahl des Instruments.
Debargue entschied sich für den Konzertflügel „Opus 102“ des im Burgund lebenden Klavierbauers Stephen Paulello. 102, weil das edle Klavier einen erweiterten Tonumfang von 102 Tasten (statt der normalen 88) abdeckt, also acht Oktaven plus eine Quarte umfasst. Bei diesem seltenen „Barless-Piano, „das bisher kaum öffentlich zu hören war, weder auf Platte noch im Konzert“ (Debargue), wird der Metallrahmens nicht über die Resonanzsaiten gelegt. Das ermöglicht eine besondere Klangfülle, Transparenz und eine unerschöpfliche Klangfarbenmagie. Parallele Saiten und nickelbeschichtete Drähte sind es zudem, die das unverwechselbare, experimentelle Klangbild bestimmen, das – so Debargue – „eine große emotionale Bandbreite“ zulässt.
Die Annäherung an das Werk für Klavier solo des Gabriel Fauré war für Debargue alles andere als Liebe auf den ersten Ton. Beginnend mit der einen oder anderen Barcarole als Encore bei Konzerten war es definitiv die viele konzertfreie Zeit während der Corona Pandemie, die Debargue zuerst die späten „Neuf Préludes“ Op. 103 (1910/11) entdecken ließen. Damit fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Faurés Spätstil mit ihren rätselhaften harmonischen Wendungen entwickelte sich für Debargue zu einer Offenbarung.
Bei allen Klavierstücken handelt es sich um durch kein Programm oder bildhafte Titel-Zuschreibung in ihrer Wirkung limitierte absolute Musik. Wurzelt Faurés Klaviermusik in den Vorbildern Mendelssohn, Schumann und Chopin, so wurde sein Stil im Laufe der Zeit immer persönlicher. Was über Allem steht, ist die „verschlungene, ambivalente Melodik und Harmonik, der stets eine von der Klassik geprägte Vorliebe für Klarheit und Prägnanz gegenübersteht.“
Ob Barcarolle und Nocturne, Romance, Ballade, Impromptu, Valses-Caprice, Mazurka, Prélude oder pièce brève, Lucas Debargue sorgt mit glitzernd perlendem Anschlag und bergluftiger Durchsichtigkeit für alle die Kontraste, „die das Vage neben dem Klaren, das expressive neben dem Zurückhaltenden, das Spontane neben dem Strengen, das gewaltsame neben dem Leblosen“ stellt.
Inhalt der Box: Romances sans Paroles op. 17 Nr. 1-3; Ballade Fis-Dur op. 19; Barcarolles Nr. 1-9, 11-13; Impromptus Nr. 1-5; Valse-Caprices Nr. 1-4; Mazurka B-Dur op. 32; Nocturnes Nr. 1-7, 9, 10, 12, 13; Thème et variations op. 73; 8 Piéces brèves op. 84; 9 Préludes op. 103; 2 Pièces op. 104
Fazit: Ein in der Zusammenstellung sorgsam erdachtes Album voller musikalischer Überraschungen in zarter Schönheit. Dazu Marcel Prousts „A la recherche du temps perdu“ oder eine der von Debargue empfohlenen Lektüren zu Fauré („Les voix du clair-obscur“ von Jean-Michel Nectoux, Fauré Biografie von dessen Sohn Philippe Fauré-Fremiel oder die Textsammlung „Fauré et l’inexprimable“ von Vladimir Jankélevich) und das Fauré-Jahr wird ein musikalisch wie literarisch gutes Jahr sein.
Dr. Ingobert Waltenberger