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CD Box: EZIO BOSSO: „A LIFE IN MUSIC“; Sony

Italienischer Meister der Minimal Music, kultisch verehrter Pianist und Dirigent

21.02.2021 | cd

CD Box: EZIO BOSSO: „A LIFE IN MUSIC“; Sony

Italienischer Meister der Minimal Music, kultisch verehrter Pianist und Dirigent

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„Musik ist etwas, das wir in uns tragen. Wir leben und bewegen uns in ihr. Der Wind, der die Bäume rüttelt, der Regen auf dem Meer, aber auch Trauer und Freude. Die Schöpfung ist schon Musik. Sie ist einfach da, unabhängig von uns. Der Mensch hat dann versucht, dieses Erhabene niederzuschreiben, damit er es wiederholen kann, wenn man es nicht hört. Denn Musik ist, wie alle Schönheit, etwas Notwendiges.“ Ezio Bosso aus einem Interview im Tracce 2018

Kindheit in einem rauen und grauen Vorort in Turin, Entdeckung der musikalischen Begabung, große Erfolge als Kontrabassist, Pianist, Dirigent und Komponist, von elend schweren Krankheiten (Hirntumor, 2011 Diagnose einer unheilbaren degenerativen Erkrankung des motorischen Nervensystems; Rollstuhl) geprägtes letztes Lebensviertel. Am 15. Mai 2020 starb Ezio Bosso mit nur 48 Jahren in einem von einer gerade für Norditalien pandemisch katastrophalen Jahr. „Das erste, was ich nach der Quarantäne machen werde, ist, an die Sonne gehen. Das zweite, einen Baum umarmen.“ Davon hatte Bosso noch in seinem letzten Interview mit dem Corriere della Sera geträumt…. Als Musiker setzte er sich für eine Öffnung des klassischen Musikbetriebs ein, seine Proben waren immer frei und für alle zugänglich.

Neben der steinigen akademischen Laufbahn waren es in den 70-er Jahren vor allem Sport und die Kunst, die es hochbegabten jungen Menschen erlaubten, aus rigiden Milieus und bitterer Armut herauszuwachsen. Ezio hatte enormes Glück, weil ihn seine Eltern (sein Vater war Straßenbahnfahrer, die Mutter arbeitete bei Fiat) und sein Bruder unterstützen. Dabei musste er rasch lernen, sich an unabdingbare Lebenssituationen anzupassen. Als er zehn war, spielte Ezio im Orchester Fagott, weil sonst niemand dieses Instrument spielen wollte. Dann war auf einmal Asthma da. Der Dirigent fand für ihn einen freien Platz bei den Kontrabässen. „Musik kam als eine Hilfe in mein Leben, vielleicht, weil ich sie mehr brauchte als andere. Durch die Musik fühle ich mich geliebt. Und sich geliebt zu fühlen, ist immer auch eine große Verantwortung.“

Bosso lernte sein Handwerk von der Pike auf, zuerst am Konservatorium in Turin, dann an der Wiener Musikakademie. Schon jung spielte er im Wiener Kammerorchester und mit dem Chamber Orchestra of Europe (unter Claudio Abbado).

Als Komponist schuf Bosso bedeutende Beiträge zu den Genres Ballett- und Filmmusiken, schrieb aber auch Opern, Symphonien, Konzerte und Kammermusiken (Quartette, Klaviertrios und Sonaten). Bosso arbeitete unter anderem mit dem London Symphony Orchestra, der Mailänder Scala, der Oper Fenice in Venedig, dem Teatro Verdi di Triest und dem Kammerorchester in Bonn. An der Wiener Staatsoper wurde im November 2016 das Ballett „Murmuration“, basierend auf dem Violinkonzert Bossos uraufgeführt.

Stilistisch ist seine vor allem in Italien populäre Musik im Fahrwasser von neo-spirituellen Trends wie Arvo Pärt als auch den rhythmisch repetitiven Charakteristiken der Minimal Music eines Philip Glass einzuordnen. Aber Ezio Bosso wäre nicht Italiener, wenn er das meditative Element dazwischen nicht für theatralischere und dramatischere Einschübe unterbräche. 

In der ersten Symphonie „Oceans“ mischen sich kühne, an Wagner erinnernde Harmonien (Beginn der Wanderer-Szene der Götterdämmerung) und harte Paukenschläge in einen sich ständig steigernden, ein Motiv umkreisenden Reigen à la „Bolero“. Überhaupt ist etwas Dringliches in Bossos Musik, eine tiefe Ernsthaftigkeit, die aus einem spirituellen Verständnis der Welt erwächst. Vor allem das erste Violinkonzert „EsoConcerto“, das in zwei Aufnahmen in der Box zu bewundern ist, folgt musikalisch nicht nur fern leuchtenden Sternenbahnen, da sind auf einmal Wut, Trauer und Resignation zu spüren, ein Auflehnen gegen das Unabwendbare, gegen Schicksal und Schmerz. Auch zu den fragil sich an einen inneren Kern herantastenden Kammermusiken („Seasong 1 bis 4 und andere kleine Geschichten“, Streichquartette 2 „The Nights“ und 5 „Music for the Lodger“) gibt es kleine programmatische Hinweise, die eher als Hommage an ein Thema zu verstehen sind, denn als konkret mit Klang gefüllte erzählerisch Panoramen. 

Viele der Aufnahmen sind live entstanden, der Applaus ist immer dabei und gibt Zeugnis von der Begeisterung des Publikums. Als Höhepunkt darf das „Venice Concert“ gelten, wo Ezio Bosso das Orchestra Filarmonico Teatro la Fenice dirigierte. Nach Bachs dritten Brandenburgischen Konzert sind es vor allem sein Konzert Nr. 1 für Violinen, Streicher und Pauken, das in der rhythmischen Urkraft und der vulkanischen Energie der Wiedergabe einen Aufschrei des Publikums auslöst, wie ich das selten erlebt habe. Die abschließende Symphonie Nr. 4 in A-Dur Op. 90 „Italienische“ von Mendelssohn-Bartholdy darf als Meilenstein in der Diskographie gelten und übertrifft noch die Abbado Aufnahme mit dem LSO aus 1984. Als Interpret vom Pult aus erinnert mich  Bosso, was Charisma, eine das Universum umarmende Geste und die humanistische Botschaft der Musik stets vor technischer Perfektion und glattem Glanz in Kopf und Herz, klar an Leonard Bernstein. 

Als sein bekanntestes Album gilt wohl „The 12th Room“. Hier zeigt sich uns der Pianist Ezio Bosso von seiner berührendsten Seite. Obwohl der erst 38 Jahre alte Bosso nach der Entfernung des Gehirntumors erst wieder gehen, sich bewegen und die Finger zu koordinieren lernen musste, und später sein Instrument an die geringere Anschlagskraft der Finger adaptiert wurde, ist ein Musiker zu bewundern, der wie Keith Jarret uns Hörer mit einfachen musikalischen Mitteln zu hypnotisieren vermag. Oft sind es neben den in aristokratischer Schönheit sich entwickelnden Melodien simple Dur-Moll Verwandlungen, kleine verspielte Schnörksel oder nur eine plötzlich heftig anziehende Dynamik und akzelerierte Tempi, die uns vordergründig in Bann zu halten scheinen. In Wirklichkeit ist es das Organisch-Altumfassende, die universelle künstlerische Wahrheit, die kreatürlich unser Innerstes zu umgürten imstande ist. Bosso begleitet uns als „nackte Menschen“ auf der Sinnsuche, mit allem Erhabenen, dem Blick im Abgrund, Freude und unfasslichen Schmerz.

 Als Komponisten hat Bosso insbesondere Bach, Beethoven, Rossini, Tchaikovsky, Pärt, Messiaen und John Cage geschätzt. Letzterer soll den jungen Burschen in Turin vor einem rabiaten Musiklehrer in Schutz genommen haben und auch sein Talent sofort erkannt haben. 

Ezio Bosso hat sich seine eigene musikalische Welt gebaut. Mit seiner Musik konnte Bosso, wie er selbst sagt, die vielen Grenzen überwinden, die das Leben ihm auferlegt hat. „Die Musik fordert mich auf, mich selbst zu vergessen, um dieses andere zu werden. Ich soll es verstehen und „in mich aufnehmen“. Die Musik ist dieses Opfer. Opfer, auf Lateinisch „sacrificium“, bedeutet „heilig machen“. Das ist kein Verzicht, im Gegenteil … Gerade indem wir uns dem anderen hingeben, können wir an diesem Heiligen teilhaben.“

Mit der umfassenden, bei Sony erschienenen und sein Lebenswerk grandios abbildenden Box „A Life in Music“ sind auf 19 CDs und einer DVD („The Venice Concert“) sämtliche Aufnahmen des Pianisten, Dirigenten und Komponisten aus dem Zeitraum 2004-2020 geschlossen erhältlich. Die Aufnahmequalität ist exzeptionell.

Inhalt der Box

CD 1 „The Turin String Quartet“ – Streichquintett Nr. 2 „The Nights“; Streichquartett Nr. 3 „The Way of 100 and One Comet“
CD 2 – Violinkonzert Nr. 1 „The EsoConcerto“
CD 3 „The Turin String Quartet“ – Streichquartett Nr. 5 „Music for the Lodger“
CD 4 „Seasong 1 to 4 and other Little Stories“
CD 5 „Road Signs Variations“
CD 6 „Symphonie Nr. 1 ‚Oceans'“
CD 7 „Six Breaths“
CD 8 „Symphonie Nr. 2 ‚Under The Trees‘ Voices'“
CD 9 „Music For Weather Elements“
CD 10 & 11 „The 12th Room“
CD 12 & 13 „… and the things that remain“
CD 14 „The Venice Concert“ – Bach: Brandenburgisches Konzert Nr. 3 / Bozzo: Konzert für Violine, Streicher & Timpani Nr. 2 / Mendelssohn: Symphonie Nr. 4
CD 15 & 16 „StradivariFestival Chamber Orchestra“ – Auszüge aus Werken von Marcello, Tschaikowsky, Bosso, Bach, Cage, Pärt, Messiaen, Beethoven
CD 17 & 18 „The Roots“ – Pärt: Fratres / Bach: Ich ruf zu dir, Herr Jesus Christ BWV 639 (arr. für Cello & Klavier); Wenn wir in höchsten Nöten sein BWV 641 (arr. für Cello & Klavier; Andante aus der Sonate für Cello & Klavier BWV 1027 / Bosso: Bagatelle Nr. 3; Cellosonate Nr. 1 „The Roots, a Tale Sonata“ / Messiaen: Quatuor pour la Fin Du Temps (Ausz.) / Beethoven: Adagio Sostenuto aus der Klaviersonate Nr. 14
CD 19 & 20 „Grazie Claudio“ – Rossini: Der Barbier von Sevilla-Ouvertüre / Prokofieff: Peter und der Wolf op. 67 / Beethoven: Symphonie Nr. 7 / Mozart: Figaro-Ouvertüre
DVD „The Venice Concert“

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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