CD Box „Die Berliner Philharmoniker und Frank Peter Zimmermann“
Beethoven · Berg · Bartók; Berliner Philharmonic Recordings
Meist sind es ja Dirigenten oder Komponisten, denen das Eigenlabel der Berliner Philharmoniker die wohl am luxuriösesten ausgestatteten Publikationen am Markt widmet. Zu den vom Orchester so geehrten Pultstars gehören beispielsweise Wilhelm Furtwängler, Nikolaus Harnoncourt, Claudio Abbado oder Simon Rattle, zu den Tonsetzern Bruckner, Mahler, Beethoven, Sibelius oder John Adams.
In der neuesten Edition stellen die Berliner Philharmoniker – wie immer live mitgeschnittene – Konzerte in bester audiophiler Klangqualität vor, die sie gemeinsam mit dem als Freund bezeichneten Geiger Frank Peter Zimmermann realisiert haben.
Frank Peter Zimmermann. Foto: Rabold
1985 und in der Berliner Waldbühne war es, dass der damals 19-jährige Frank Peter Zimmermann und die Berliner Philharmoniker unter Daniel Barenboim sich einander erstmals in einem Konzert beschnupperten. Aber seine Bezüge zum Orchester sind breiter gestreut. Einer seiner Lehrer, Saschko Gawriloff, war – wenn auch nicht lange – Konzertmeister des Orchesters. Der berühmteste Geiger des Orchesters, Michael Schwalbé, hat Zimmermann einen Bogen geschenkt. Und vor allem die unsterbliche Geliebte seines Lebens, die „Lady Inquiquin“, eine Stradivari aus dem Jahr 1711, war lange im Besitz des Philharmonikers Walter Scholefield. Bis 2021 hat Zimmermann an die 80 Konzerte mit den Berliner Philharmonikern absolviert, in Berlin, in Salzburg, in London.
Vier Auftritte dieser musikalischen Partnerschaft bilden das Programm des neuen „Zimmermann-CD-Buches“: Das Violinkonzert von Ludwig van Beethoven, dirigiert von Daniel Harding, das als Requiem für Manon Gropius komponierte, dem Andenken dieses Engels gewidmete Violinkonzert von Alban Berg, bei dem der neue Chefdirigent der Berliner Philharmoniker Kirill Petrenko am Pult steht sowie die beiden kühnen Violinkonzerte von Béla Bartók, musikalisch geleitet von Alan Gilbert. „Während das schwärmerische Erste ganz im Zeichen der Liebe des Komponisten zur jungen Geigerin Stefi Geyer steht, besticht das Zweite durch seine sinnliche Melodik und eine höchst originelle Formgestaltung. Letzteres nennt Frank Peter Zimmermann eines der drei größten Violinkonzerte, die je komponiert worden sind“. Die Aufnahmen sind in den Jahren 2016 bis 2020 entstanden.
Frank Peter Zimmermann bringt zur ungeheuren Perfektion des Orchesters seinen ganz persönlichen Geigenton ein. Hören Sie sich den Beginn des Violinkonzerts von Alban Berg an, wie Zimmermann nuancenreich und nur der Wahrhaftigkeit im Ausdruck verpflichtet, die Klangpalette der Violine um rauchig erdige Töne, ganz Trauer und Furcht, zu erweitern scheint. Zimmermann ist in seinem Künstlertum wohl der Antipode eines glatten Virtuosen. Stilistisch maßgeblich für Zimmermanns Spiel waren neben der deutschen Tradition die russische Schule, verkörpert durch seinen Professor Valery Gradow, und die französisch-belgische wegen seiner Ausbildungszeit bei Hermann Krebbers in Amsterdam, der selbst wiederum eine direkte Linie zu Eugène Ysaye bildet.
Benedikt von Bernstorff hält in seinem mehr als bemerkenswerten Aufsatz „Unter Freunden“ zum unverwechselbaren Parfüm des Geigen-Klangs von Zimmermann einige kluge Gedanken fest: „Die Ausprägung eines individuellen Klangprofils wird in der zeitgenössischen Szene von verschiedenen und zum Teil gegenläufigen Tendenzen erschwert. Einerseits kann die Fokussierung auf technische Perfektion zu einer wenig charakteristischen Makellosigkeit führen, der Musiker dann nur durch äußerliche Manierismen den eigenen Stempel aufdrücken können. Andererseits sind durch die Rekonstruktion historischer Spielweisen die Ansprüche an stilgerechte Interpretationen enorm gestiegen. Den Erkenntnissen der historisch orientierten Aufführungspraxis hat sich auch Frank Peter Zimmermann nicht verschlossen. So klingt sein Ton bei Mozart anders als etwa bei Tchaikovsky, und Beethovens Klavierkonzert spielt der Geiger heute schlanker, schneller und ,unromantischer‘ als er es in den frühen Jahren seiner Karriere getan hat. Sogar im russischen Repertoire entfernt er sich stilistisch inzwischen deutlich von seinem großen Vorbild David Oistrach.“ Was zu ergänzen ist, dass Zimmermann neben all dem stupenden technischen Können und der schlafwandlerischen musikalischen Einfühlungsabe mit seinem Spiel eine tiefe Humanität an den Tag legt. Jeder Ton entspringt einem Wissen um die hinter den Noten stehenden Gefühle und Abgründe, ist Ausdruck der conditio humana. Zimmermann scheint besonders mit den Stücken von Berg und Bartók existenziell zu verschmelzen. Dazu gesellen sich eine unbändige Spielfreude, ein intellektuell angereichertes Musikantentum, ein unglaublicher Reichtum an klanglichen und strichtechnischen Nuancen.
Die Edition ist eine würdige Ehrung des Solisten Zimmermann, des uneitlen, sympathischen, unendlich klugen Künstlers, aber auch des Teamplayers Zimmermann, der sein Miteinander mit dem Orchester und den stets höchst respektvoll apostrophierten Dirigenten in dem geglückten Interviewfilm als kammermusikalisch empfindet. Man muss genau wissen, was die Mitspieler wollen und tun, mit ihnen gemeinsam atmen und vorangehen. Aus dieser Haltung heraus hat er 2007 gemeinsam mit dem Antoine Tamestit (Viola) und Christian Poltéra ( Cello) das Trio Zimmermann gegründet.
Was mir noch selten bei in meiner 50-jährigen intensiven Befassung mit dem Medium Tonaufnahme/ Film passiert ist: Mein Verständnis der gespielten Konzerte, aber auch dessen, was ein Künstler in höchstem Bemühen an Einheit und Auffassung von Werk, Welt und Individuum erreichen kann, hat ab sofort eine neue Dimension. Was für ein Aha-Effekt betreffend die Möglichkeiten von Ton und kosmischer Stille, die ihn begleitet.
Für alle, die noch immer die klassische Moderne fürchten sollten: Béla Bartóks Konzerte werden Sie kaum anderswo ganz aus der romantischen Tradition heraus und bei all den technischen Ansprüchen schwereloser, gleichzeitig kulinarischer und metaphysisch transluzider hören können als bei diesen referentiellen Wiedergaben durch Zimmermann/Gilbert.
Die Hardcover-Edition enthält die Aufnahmen auf zwei CDs sowie einer Blu-ray die entsprechenden Videoaufnahmen, Essays und Fotos sowie den 45-minütigen Interviewfilm „Frank Peter Zimmermann und die Berliner Philharmoniker“. Das Cover stellt einen Ausschnitt des Bildes „Immersive Integral. Turn Study I“ der Künstlerin Jorinde Voigt dar, die zudem mit Bildern aus der Reihe „Potential“ das Booklet gestaltet hat. Frau Voigt ist Professorin an der Hochschule für bildende Kunst Hamburg.
Ludwig van Beethoven
Konzert für Violine und Orchester D-Dur op. 61
Kadenzen: Fritz Kreisler
Dirigent: Daniel Harding
Alban Berg
Konzert für Violine und Orchester »Dem Andenken eines Engels«
Dirigent: Kirill Petrenko
Béla Bartók
Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 Sz 36
Konzert für Violine und Orchester Nr. 2 Sz 112
Dirigent: Alan Gilbert
Videotrailer: https://youtu.be/znHirlHAJ0Q
Dr. Ingobert Waltenberger