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CD-Box: CARL NIELSEN: Die Symphonien – Royal Danish Orchestra Recordings 1965-2022; NAXOS

Spezialedition zum 575-jährigen Jubiläum des Orchesters (1448-2023)

25.06.2024 | cd

CD-Box: CARL NIELSEN: Die Symphonien – Royal Danish Orchestra Recordings 1965-2022; NAXOS

Spezialedition zum 575-jährigen Jubiläum des Orchesters (1448-2023)

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„Bis zum Überdruss müssen wir zeigen, dass eine wohlklingende Terz als göttliche Gabe gesehen werden sollte, eine Quart als Erfahrung und eine Quint als die größte Freude.“ Nielsen

Das Königlich Dänische Orchester wurde vom dänischen König im Jahr 1448 gegründet. Damit ist es das älteste Orchester der Welt. Aus Anlass des 575. Bestandsjubiläums feiert das Orchester mit dieser exquisiten Box, die allen Symphonien des Komponisten Carl Nielsen gewidmet ist. Als „Zugaben“ erklingen das „Klarinettenkonzert“ und die Ouvertüre zur Oper „Maskerade“.

Als 24-Jähriger wurde Carl Nielsen als Geiger in das Orchester aufgenommen. Wie allen anderen Musikern des Orchesters wurde ihm eine Nummer zugeteilt: 657 lautete sie, seine Vorgänger Heinrich Schütz und John Dowland hatten die Nummern 259 resp. 140. 16 Jahre an den Pulten der zweiten Geigen des Orchesters (bis 1905) boten die materielle Grundlage, um sich mit seinen Kompositionen beschäftigen zu können. 1908 wurde Nielsen Dirigent des Opern- und Ballettrepertoires am Königlichen Theater.

Die intensive Beschäftigung mit den großen Werken der Musikgeschichte bis zur gemäßigten Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts als aktiver Orchestermusiker bzw. als Dirigent erlaubten Nielsen, in Sachen Kompositionstechniken, Orchestrierung etc. am Schritt der Zeit zu sein als auch den spezifischen Klang des Orchesters- (schieferglänzend granulierter Streicher- und üppiger Holzbläserklang – für seine besondere Art der Tonsetzung berücksichtigen zu können.

Die Box enthält die sechs Symphonien in ausgewählten Studioaufnahmen bzw. Rundfunkmitschnitten mit den Dirigenten Thomas Søndergård, Alexander Vedernikov, Leonard Bernstein, Sir Simon Rattle, Michael Boder und Paavo Berglund. Bis auf die Aufnahme mit Leonard Bernstein vom 16.5.1965 der „Dritten“ = „Sinfonia Espansiva“ sind alle andern Aufnahmen jüngeren Datums (1989 bis 2022).

Seit 2018 bekleidet Thomas Søndergård das Amt des Musikalischen Direktors des Orchesters. Er darf den Zyklus mit einer Live Aufnahme der Ersten Symphonie vom 24. August 2022 aus dem Königlich Dänischen Opernhaus starten. Ich gestehe, bislang kaum einen wirklichen Zugang zur symphonischen Welt Nielsens gefunden zu haben, weder durch die Einspielungen Bernsteins mit den New Yorker Philharmonikern noch durch die relativ junge Veröffentlichung aller Symphonien mit Fabio Luisi und dem Danish National Symphony Orchestra bei der DGG.

Jetzt hat‘s mich erwischt. Schon die „Erste“ in g-Moll op. 7, so ein Mittelding aus forsch nordischen Klangerzählungen und exzentrischer Unberechenbarkeit, ist bei Thomas Søndergård in genuin orchestererfahrenen Händen. 1991 trat der jetzige Chefdirigent als Perkussionist in das Orchester mit der Nummer 959 ein. 2005 debütierte er mit seinem Orchester als Dirigent. Nielsen selbst erlebte seine „Erste“ als Geiger im Orchester, während Johan Svendsen vom Pult aus im Odd Fellow Palace für Spannung anlässlich der Uraufführung 1894 sorgte. Mich faszinieren das dynamische Wogen der Natur im Scherzo, das pastorale Grün und der temperamentvolle Kehraus im Finale. Søndergård nimmt das ‚Allegro con fuoco‘ eher bedacht denn überstürzt hitzig. Mit Liebe zum Detail und den pointiert abrupten Stimmungswechseln setzt er organisch steigernd zum finalen trompetenfanfarenen Furor an, ohne die formal mit gespitztem Stift gezeichneten Strukturen zu vernachlässigen.

Alexander Vedernikov dirigiert die Ferruccio Busoni gewidmete „Zweite“ mit dem programmatischen Titel „Die vier Temperamente“. Inspiriert hatte ihn ein derb humoristisch gezeichneter Zyklus zu den vier Temperamentstypen Choleriker, Phlegmatiker, Melancholiker und Sanguiniker in einem dänischen Pub. Dementsprechend drastisch und markant schärfte Nielsen hier seine musikalische Sprache. Kontrapunktisch wild entfesselt endet beispielsweise des Cholerikers Allegro. Der russische Dirigent und frühere Musikchef des Bolshoi Theaters Vedernikov wurde 2018 zum Chefdirigenten des Königlich Dänischen Theaters ernannt. Die vorliegende Aufnahme entstand am 4. September 2020 im Opernhaus von Kopenhagen, einige Wochen, bevor Vedernikov im November an den Folgen einer Covid-19 Infektion starb. Vedernikov war ein Vollblutmusiker mit großem Temperament und energischer Stabführung. Er liebte hörbar den großen, satten Klang, der zum Markenzeichen des Orchesters geworden ist. Vedernikovs Gabe, Spannungsbögen minutiös aufzubauen und besonders die charakterisierenden Themen wie Skulpturen zu formen, machen die Aufnahme zu einem Erlebnis. Ob der hübsche verträumte Jüngling in Naturbetrachtung versonnen lächelnd am Teich die Zeit stillstehen lässt oder der Melancholiker sich als spintisierender Spätromantiker entlarvt, stets ist es der sinfonische Duktus im Lyrischen wie den laut aufzickenden Figuren, den Vedernikov bis zum Zerreißen straff in Händen hält. Dem Sanguiniker im vierten Satz malt Vedernikov einen sich besonders flott drehenden Bilderreigen. Nielsen sah bei diesem vierten Satz vor dem inneren Auge eine „Person, im Glauben daran, dass die Welt ihr gehört und ihr ohne eigenes Zutun gebratene Tauben in den Mund fliegen“. Wie viele Menschen heute würden sich mit diesem Motto wohl recht identifizieren können….

Leonard Bernsteins Lesart der „Sinfonia espansiva“ genannten dritten Symphonie ist wahrscheinlich doch einigen bekannt. Obwohl 1965 aufgenommen, handelt es sich rein technisch, aber auch mit dem schnittigen ‚Allegro espansivo‘ samt seligem Walzer, um ein aufregend die Farbigkeit der einer Filmmusik nicht unähnlichen Partitur ausschöpfendes Tondokument. Der Anlass der Aufführung dieser „Dritten“ am 17. Mai 1965 war die Annahme des Léonie Sonning Musikpreises durch Bernstein, die verbunden war mit einer Verpflichtung, ein Konzert zu dirigieren. Einen Tag zuvor entstand die Studioeinspielung für CBS. Die Vokalisen wurden von Ruth Guldbaek (Sopran) und Niels Moller (Tenor) beigesteuert.

Mein persönlicher Favorit der Box ist die brillante wie umwerfend stürmische Aufnahme der „Vierten“; Op. 29, mit dem Beinamen „Das Unauslöschliche“ unter der musikalischen Leitung von Sir Simon Rattle, live aus der DR Concert Hall vom 2. Februar 2013. Während der Zeit des Ersten Weltkriegs inkl. einer wüsten Ehekrise ab 2014 entstanden, ist die „Vierte“ ein äußerst vitales Stück über einen ungestüm sich artikulierenden Lebenswillen. Virtuos besingt sie die Vielfalt der Schöpfung in kämpferischer Postur. Nicht nur die Pauken prallen im vierten Satz wie Hähne aufeinander, sondern auch die Tonarten in einer harmonisch sonst doch sachten Umgebung. Als wollte Nielsen mit diesem Werk die Bandbreite an Kontrasten menschlicher Erfahrungen mit einer gehörigen Portion theatralischer Lust ausschöpfen und zugleich seiner kompositorischen Meisterschaft unterordnen, ist der Hörer nicht minder hin- und hergerissen und am Ende von den sich aneinander reihenden Effekten begeistert erschöpft. Sir Simon Rattle entfacht zu diesem sinfonischen Lebens-Hymnus mit dem wundersamen Klangkörper ein Feuerwerk an stets neu auffrischenden Themen, zoomt sich an die an Schärfe zunehmenden karstigen seelischen Klüfte im Widerstreit von Euphorie und Sturz heran. Er scheint sich in den transparenten Klangwirkungen lässig vor dem waghalsigen Jongleur der Instrumentierung zu verbeugen. Vom langsamen Satz, von der Musikwissenschaft in der Nähe der entsprechenden Sätze Mahlers verortet, geht ein visionäres Wetterleuchten aus. Der letzte ‚Allegro-Satz‘ ist ein schwindelerregender orchestraler Parforceritt, im feierlichen Ausklang ein verwegener kleiner Bruder von Straussens „Alpensymphonie“.

Die „Fünfte“, Op. 50, ist mit einem Live-Mitschnitt vom 11. September 2015 aus dem Kopenhagener Opernhaus mit Michael Boder, dem Vorgänger Vedernikovs als Orchesterleiter, am Pult, vertreten. 2015 feierte man den 150. Geburtstag des dänischen Komponisten. Der auf Musik des 20. Jahrhunderts und Avantgarde spezialisierte Boder war genau der richtige Mann, um Nielsens fortschrittlichste und widerspenstige Partitur zu im Titanischen zerfahrenem Leben zu erwecken. Am 24. Januar 1922 in Kopenhagen mit Nielsen am Pult uraufgeführt, verglich der Komponist die janusköpfige Symphonie mit einem Felsen, der auf die Spitze eines Berges gerollt, kurz stillsteht und auf der andern Hangseite wieder hinuntergeschubst wird. Schnarrtrommel und vogelflirrende Klarinettenklänge überlagern marschartig rhythmische Strukturen, die an Shostakovich erinnern. Die Intensität, mit der Boder die unentwegt nach Orientierung suchenden Streicher unter harsch gegenläufigem Getrommel vorwärtsdrängt, bis nur noch die Klarinette ihr einsames Lied singt, steuert auf den in seiner Disparität gewaltigen Zweiten Teil zu. Streng polyphone Versatzstücke können die aus unterschiedlichen Richtungen kommenden dunklen Gedanken nicht vertreiben. Eine Ahnung von Eingesperrtsein und Schicksalsergebenheit macht sich breit, an der auch der Dur-Schluss nichts ändert.

Paavo Berglund beschließt den symphonischen Zyklus mit der „Sechsten“, der „Sinfonia semplice“, im August 1989 im Odd Fellow Palace in Kopenhagen eingespielt. Von 1993 bis 1998 leitete der unerbittlich seine künstlerischen Ziele verfolgende finnische Dirigent das Royal Danish Orchestra. Statt noch mehr auf Klanggewalt, Drastik und Monumentalismus zu setzen, schrieb Nielsen 1924/25 eine kammermusikalisch wirkende Symphonie, deren zweiter und dritter Satz die Bezeichnungen ‚Humoreske‘ und ‚Proposta seria‘ tragen. Einfach ist an diesem polystilistisch, konzertante Elemente und komplexe Variationen unter einen Hut zwängenden Stück nichts. Dekadent flirrend wie Strauss‘ „Salome“, sarkastisch höhnisch, kauzig bis galgenhumorig zugleich, wandelt Berglund das Orchester zu einer Hochpräzisionsmaschine. Instrumentale Nuancen explodieren wie Feuerwerkskörper, die Brillanz der solistischen Einwürfe trotzt Bewunderung ab. Der Nielsensche Kosmos, nie war er rätselhafter und jahrmarktähnlichem Getriebe ähnlicher.

Auf einer vierten CD sind noch das „Klarinettenkonzert“ aus dem Jahr 1928 mit John Kruse als Solist unter der musikalischen Leitung von Alexander Vedernikov (live 4. September 2020) sowie die Ouvertüre zur Oper „Maskarade“ (live 13&15. November 2006), dirigiert von Michael Schønwandt, zu hören.

Fazit: Eine künstlerisch wie von der Aufmachung her First rate Box (mit Texten in dänischer und englischer Sprache), die mich in Sachen Nielsen gewaltig auf Vordermann gebracht hat. Die verschiedenen Dirigenten der Aufnahmen bieten ein Prisma an Interpretationsansätzen, die dem symphonischen Kosmos Nielsens als einem siebenschlauen Vexierspiel etwas Bodenständiges, ja angenehm Spielerisches abgewinnen. Für zu „Bekehrende“ (wie mich), Einsteiger und Fortgeschrittene gleichermaßen zu empfehlen!

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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