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CD-Box/ Blu-ray Audio im Dolby Atmos Audioformat – SERGEI RACHMANINOV: Vier Klavierkonzerte, Rhapsody auf ein Thema von Paganini, Vocalise, Transkription Silberne Schlittenglocken; Deutsche Grammophon

23.03.2023 | cd, dvd

CD-Box/ Blu-ray Audio im Dolby Atmos Audioformat – SERGEI RACHMANINOV: Vier Klavierkonzerte, Rhapsody auf ein Thema von Paganini, Vocalise, Transkription Silberne Schlittenglocken; Deutsche Grammophon

Destination Rachmaninov: Daniil Trifonov und Yannick Nézet-Séguin mit seinem Philadelphia Orchestra gratulieren mit dieser musikalischen Reise zum 150. Geburtstag des Komponisten

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Am 20. März 1873 (1. April nach der neuen Zeitrechnung) wurde Sergei Rachmaninov in Oneg bei Nowgorod geboren, er starb am 28. März 1943 in Beverley Hills. Dieses doppelte Jubiläum bzw. Gedenken (150. Geburtstag, 80. Todestag) spiegelt sich in den Neuerscheinungen. Die Deutsche Grammophon bündelt in einer Box die bereits als Einzel-CDs erhältlichen Rachmaninov-Aufnahmen für Klavier und Orchester des Daniil Trifonov mit dem Philadelphia Orchestra unter der musikalischen Leitung von Yannick Nézet-Séguin aus den Jahren 2015 bis 2019. Als Premiere neu dazugekommen ist in dieser Veröffentlichung die von Trifonov selbst für Klavier solo eingerichtete „Vocalise“, Op. 34, die im Original für Klavier und Gesang notiert ist.

Die Meinungen über die Qualität von Rachmaninovs kompositorischem Schaffen divergieren schroff. Die einen verehren Rachmaninov wie einen überirdischen Mystiker, als letzten Romantiker bzw. sprechen dem Hören seiner Musik therapeutische Wirkung zu. Als bekanntestes Beispiel darf Tenor José Carreras zitiert werden, der während seiner Leukämie-Erkrankung sehr viel Kraft aus dem Zweiten Klavierkonzert von Rachmaninow ziehen konnte, das ihn während seiner gesamten Behandlung begleitet hat, wie er selbst sagt. Die Zeitungen titelten damals „Mit Rachmaninow gegen Krebs“.

Dem stehen Stimmen gegenüber, die seine Musik als kitschig oder schwülstig beschreiben. Theodor Adorno als „Philosoph der neuen Musik“ konstatierte beim Komponisten gar Megalomanie bzw. einen Nerokomplex. Unbestritten ist, dass Rachmaninov einer der erstaunlichsten Pianisten seiner Zeit war, mit einem im Alter zunehmenden Hang zu rasanten Tempi, wie das Zeitzeugen berichten oder es anhand der vorhandenen Aufnahmen nicht zuletzt im Spiel eigener Werke nachprüfbar ist. Mit dem Philadelphia Orchestra führte er mit Leopold Stokowski das vierte Klavierkonzert auf. Gustav Mahler war Rachmaninovs bewunderter Dirigent für sein Konzert des „Dritten“ 1910 in New York. Als Dirigent soll er persönlich – wie es auch Mahler nachgesagt wird – unangenehm tyrannisch und apodiktisch gewesen sein.

Der biographisch zwischen jugendlichem Überschwang, Alkoholismus, Depressionen und einem in seinem Exil in den USA und der Schweiz stechendem Heimweh („Mit dem Verlust der Heimat verlor ich mich selbst“) oszillierende Rachmaninov wirkt in seiner unvorstellbaren Kompositions-Komplexität und den mörderischen Anforderungen an die Solisten am eindrücklichsten dann, wenn er von den absolut Besten interpretiert wird. Dieser Flohzirkus an Noten will gebändigt, in ein Ganzes eingebunden und dennoch der Eindruck virtuoser Leichtgängigkeit und spiritueller Fantasie erweckt sein. Nicht ohne Grund gilt Horowitz als einer seiner historisch adäquatesten Interpreten.

Vielleicht ist Daniil Trifonov heute dieser weltweit beste Pianist im großen romantischen Fach, für das pianistische Werk Rachmaninovs macht mich jedenfalls keiner mehr staunen als er.

Auf der Audio Blu-ray, die alle drei CDs mit einer Gesamtspielzeit mehrerer Stunden sammelt, wird mit dem berühmten Klavierkonzert Nr. 2 in c-Moll, Op. 18 gestartet, deren Grundlage eine kleine Romanze von 1890 war, die der jung verliebte Komponist für Natalja Satina schrieb. Für Trifonov ist dieses Konzert mit der Nachahmung des Läutens russisch-orthodoxer Kirchenglocken entgegen der Publikumsmeinung unromantisch, eher klassisch ausgerichtet, das auf Polyphonie, weniger auf üppige Ausschmückungen setzt. Daher sind an das Konzert direkt Rachmaninovs Transkriptionen von Johann Sebastian Bachs “Violinpartita“ in E-Dur“, BWV 1006, gekoppelt. Wie Trifonov pianistisch den Spagat zwischen Rachmaninovs Amalgam aus russischer Folklore und westlicher Harmonik sowie Bachs völlig klarer strukturalistischer Mehrstimmigkeit zieht, ist stupend. Hier der Stimmungsmagier, der dennoch kühlen Kopf bewahrt und sich nie zu Donnern und Tastengehämmere verleiten lässt, da der Analyst, der jede einzelne Note klar umzirkelt perlen lässt.

Das vierte Klavierkonzert in g-Moll, unmittelbar nach Bach, ist mein persönlicher Favorit. „Der Duktus ist jazzig, mechanisch, fast maschinell, man spürt den Einfluss der Filmmusik und des Industriezeitalters.“ Und wirklich geht hier Trifonov, der das „Vierte“ als eine Reise durch das musikalische Mosaik von Rachmaninows damaliger Welt charakterisiert, mit einer ungewohnten Leichtigkeit und Sachlichkeit im Anschlag, mit einer vom Orchester in seiner zunehmenden Rasanz verschmelzenden Gestik ans Werk.

Die wiederum von Trifonov selbst arrangierten „Silbernen Schlittschuhglocken“ aus Rachmaninovs Chorfantasie „Die Glocken“ nach einem Gedicht von Edgar Allan Poe destilliert, sind geprägt vom auf der Blu-ray folgenden ersten Klavierkonzert in fis-Moll, Op. 1 und lässt aber ebenso die profunde Religiosität des dritten Klavierkonzerts in d-Moll, Op. 30 erahnen. Auch wenn Trifonov über der Mühe des Solisten spricht, in all dem komplexen Passagenwerk das Legato der Melodie und die zarte Dynamik durchzuhalten, so merkt der Hörer davon nichts.

Hitzig und in jeder Sekunde wissbegierig am Saft des Lebens schnüffelnd gehen Trifonov und Nézet-Séguin dieses so temperamentvolle „Erste“ an. Hier in der 1917 erweiterten Neufassung zu hören, erweckt das dreisätzige kompositorische Stück des 18-jährigen Tonsetzers beim Pianisten Assoziationen an den Duft frischer Blumen oder einem Feld nach dem Regen. Später sollte es das Lieblingsstück von Rachmaninov im Konzertsaal werden, weil ihn das Konzert an seine Wurzeln, an glücklichere Zeiten erinnere.

Nach dem poetischen Epilog „Vocalise“ Op. 34 aus dem Jahr 1912 (auf der Blu-ray Audio in Kurzfassung, auf der Einzel-CD in der Langversion), eigentlich das Schlussstück eines Zyklus von 14 Romanzen für Klavier und Gesang, baut das dritte Klavierkonzert in d-Moll, Op. 30, ein typisch russisches Universum aus gebetsartiger Introspektion und melancholischer Meditation mit sehnsuchtsvollem Blick ins Hellere. Trifonov erweist sich wie stets als meisterlicher Erforscher der Ausdrucksmöglichkeiten seines Instruments. „Im Hinblick auf technische, psychologische und emotionale Komplexität ist Rachmaninovs drittes Klavierkonzert vielleicht das gewaltigste Unternehmen in der gesamten Klavierliteratur.“ Oder wie andere sagen, wird es als Inbegriff einer ins Epische gezogenen Virtuosität wahrgenommen, die Ausdauer, Kraft und Beweglichkeit verlangt. Im dritten Satz scheinen die anfänglichen Bläserfanfaren hymnisch zu explodieren. Ich bewundere immer wieder, was Trifonov in den 43 Minuten Spielzeit an dramaturgisch tief durchdachter pianistischer Differenzierung und flinker Fingerartistik draufhat. Der Schlüssel zum Verständnis dieses Komponisten liegt ja für das Publikum in den Händen der Interpreten. Nehmen Sie ihn aus Trifonovs Hand und tauchen sie in den Kosmos des begnadeten Melodikers und gewieften Klangregisseurs Rachmaninov.

Anmerkung: Die „Rhapsody auf ein Thema von Paganini“ ist nicht auf der Audio Blu-ray, sondern „nur“ auf CD 3 zu hören. Die 24 Variationen mit dem Dies-irae Zitat sind für Trifonov eine Art „Miniaturballett, ein Tanz mit dem Schicksal, der von Paganinis Seele handelt.“ Der Pianist steigt in den faustischen Kampf jedenfalls ohne Teufelspakt mit der Anschlagsbravour, die wir an ihm schätzen.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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