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CD Bohuslav Martinů Symphonien Nr. 5 und 6, ROGER NORRINGTON dirigiert das SWR-Symphonieorchester

22.08.2022 | cd

CD Bohuslav Martinů Symphonien Nr. 5 und 6, ROGER NORRINGTON dirigiert das SWR-Symphonieorchester; SWR

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Bohuslav Martinů ist in Wahrheit ein immer noch relativ zu Dvořák, Smetana oder Janacek gesehen Unbekannter unter den tschechischen Komponisten. Sein Leben war geprägt von den Umstürzen und politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts., aber auch vom Leben in Paris und New York

Dabei hatte alles so idyllisch und schelmisch an der Grenze von Böhmen und Mähren begonnen. Seinen ersten Musikunterricht erhielt er nämlich beim Schuster im ostböhmischen Polička. Die Erwartungen seiner Mäzene, i.e. der Bewohner seiner Heimatstadt, nach einem erfolgreichen Studium am Prager Konservatorium erfüllte er erst einmal nicht, weil er wegen mangelnden Einsatzes kurzerhand vom Unterricht ausgeschlossen wurde. Der Geigenunterricht bei Josef Suk hat aber offenbar zumindest dazu gereicht, selber lehren bzw. langjährige Positionen als Violinist in der Tschechischen Philharmonie übernehmen zu können. Seine Kompositionsstudien vervollständigte Martinů bei Albert Roussel in Paris. Der Nationalsozialismus zwang ihn zur Emigration, 1952 erhielt er die amerikanische Staatsbürgerschaft. Nach einer ausgedehnten Lehrtätigkeit in Tanglewood, Princeton und New York lebte Martinů ab 1956 bis zu seinem Tod in der Schweiz bei Paul Sacher.

Martinů war ein ungemein schaffensfroher Mensch, er schrieb u.a. sechs Symphonien, fünf Klavierkonzerte, 16 Opern, vier Ballette und eine unglaubliche Anzahl an kammermusikalischen Werken, darunter sieben Streichquartette, drei Klaviertrios, ein Trio für Flöte, Violoncello und Klavier in C-Dur, zwei Klavierquintette, sechs Violinsonaten und drei Cellosonaten.

Die vorliegende Publikation befasst sich mit der fünften und sechsten Symphonie des als am besten als Polystilisten zu bezeichnenden Tonsetzers. Die grandiosen Einspielungen unter der künstlerischen Leitung von Roger Norrington mit seinem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR, einem der bis heute besten deutschen Klangkörper, entstanden live in der Beethovensaal der Liederhalle Stuttgart 2003 und 2008.

Martinů war schon früh – gleichsam als Gegenentwurf zur deutschen Spätromantik – von Alter Musik und französischen Impressionisten fasziniert. Er nahm neoklassische Tendenzen eines Stravinsky auf und ließ sich später auch von der freien Tonsprache des Jazz inspirieren.

Die fünfte Symphonie schrieb er 1946 in New York, die Uraufführung fand unter der Stabführung von Rafael Kubelik 1947 in Prag mit dem Widmungsträger des Stücks, nämlich der Tschechischen Philharmonie, statt. Alle anderen Symphonien Martinůs wurden in den USA aus der Taufe gehoben.

Die aus Eigensicht des Komponisten „gut organisierte, organische, wohlgeordnete“ Symphonie würde ich eher weniger nüchtern als ein in einem impressionistischen Farbenrausch schwelgendes Stück bezeichnen. Das dreisätzige wahrlich originelle Instrumentalwunderwerk geht sehr frei mit tradierten Symphonietechniken um. Langsame und rasche Tempi fließen in einander über, desgleichen sorgt eine verblüffende rhythmische und metrische Komplexität für tänzerischen Schwung und energetischen Überschwang. Bisweilen kumulieren die Einfälle zu so etwas wie anschaulicher Atmosphäre, großartigen Filmmusiken nicht unähnlich. Jedenfalls regen die duftig und lustig blinkenden Emanationen aus Martinůs Klanglabor zu Assoziationen und Träumereien an.

Seinen fernen slawisch tschechischen Ursprung kann die Musik nicht leugnen (gleich zu Beginn des ersten Satzes ist eine kleine Reminiszenz an Mussorgsky zu hören), der Gesamteindruck hat jedoch mit pastoraler Idylle à la „Böhmens Flur und Hain“ gar nichts am Hut. Vielmehr erinnert die fünfte Symphonie an bunte, quietschlebendige Stadtlandschaften mit ihren vielfältigen akustischen Reizen. Ein großzügiger Einsatz der Bläsergruppen unterstreicht nochmals die hier allerdings geordnete Kakophonie einer Metropole. Paris und New York liegen auf jeden Fall näher als Prag. Der Amerikaner in Paris oder halt der Böhme dort und da, wer vermag es zu präzisieren, hatte doch Martinů selbst sein ganzes Exilleben damit gehadert, wohin er eigentlich wirklich will. Vielleicht erzählt ja gerade das geheimnisirisierende und sehnsuchtsvolle Larghetto genau davon.

Seine sechste Symphonie nahm Martinů erst 1951 in Angriff,1953 war sie fertig. Eine ungewöhnlich lange Zeitspanne gemessen an seinem sonst so flotten Arbeitsstil. Im Unterschied zur fünften und allen anderen Symphonien verzichtete Martinů auf den Einsatz eines Klaviers im Orchestersound. Die ursprünglich für den Kopfsatz konzipierten zwei Klaviere ließ Martinů final weg. Die als „Fantaisies symphoniques“ bezeichnete Sechste wurde 1955 unter Charles Munch vom Boston Symphonie Orchestra erstaufgeführt.

Also lieber Martinů, ein „Chaos“ oder „ohne Form“ ist die „Sechste“ retrospektiv nach all den Entwicklungen in der Nachfolge serieller Kompositionstechniken in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert wohl nicht, aber wahrscheinlich kommt das Wort „Fantasie“ dem Kern der Musik näher, als die mit Erwartungen aufgeladene Bezeichnung „Symphonie.“

Als rhapsodisch verschlüsselte Programmmusik, deren sehr privater Inhalt nur ihr Schöpfer kennt, könnte man Martinůs „Sechste“ auch bezeichnen. Sie ist von großer Unruhe und Ahnungen geprägt und dünstet eine „unheimliche, grillen- fast spukhafte“ Atmosphäre (Harry Halbreich) aus. Mich fasziniert diese im Tonalen wurzelnde, frei in Bi- oder Tritonalität ausschwingende Klangsprache sehr. Nach gewaltigen Tonballungen und gewitterhaften Fortissimi ertönt im ersten Satz eine Sologeige, ganz romantisch wandern die Gedanken zu einem schönen galanten Erlebnis, während en passage Dies irae-Trompeten von den letzten Dingen künden. Den thematischen Verschränkungen im Poco Allegro, den surrenden Heeren der Hummeln und Insekten, die durch den Raum zu schwirren scheinen, dient als Basis eine motivische Entwicklung in fortschreitenden Parzellen, die sich von Textur und Tempo immer mehr intensivieren bzw. beschleunigen.

Kontradiktorische Gefühle im dritten Satz, das gleichzeitige Unbehagen an der Welt und die Lust am Dasein binden sich in eskapistisch sphärischer Klangarchitektur, bewegend, irritierend, faszinierend vom ersten bis zum letzten Ton.

Diese Veröffentlichung ist umso willkommener, als außer den erstaunlich zahlreichen Gesamteinspielungen der Symphonien Nr. 1-6 von Bohuslav Martinů (Vaclav Neumann 76-78, Supraphon, Tschechische Philharmonie; Bryden Thomson Royal 89/90, Chandos, Scottish National Orchestra; Neeme Järvi, 2003, BIS, Bamberger Symphoniker; Vladimir Valek, 2006, Supraphon, Prager Symphonisches Orchester; Jiri Belohlavek, 2010, Onyx, BBC Symphony Orchestra und unter Cornelius Meister, 2011 bis 2017, ORF) kaum einzelne Symphonien auf Tonträgern erhältlich sind. Darüber hinaus vermag es Roger Norrington mit dem technisch und klanglich erstklassigen SWR-Orchester auf ganz selbstverständliche Art und Weise, die böhmisch barocke Archaik der Musik mit amerikanischer Nonchalance zu verknüpfen und die unverkennbar verspielt experimentelle Art des Komponisten, mit Tonalität, Rhythmik, Harmonien und Tempi umzugehen, begeisternd auf das Orchester zu übertragen.

Empfehlung!

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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