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CD/Blu-ray: KIRILL PETRENKO und die BERLINER PHILHARMONIKER, klingende Momentaufnahmen einer Annäherung; Berliner Philharmoniker Records

Der russische Dirigent und das preußische Edelorchester grüßen mit einer neuen Dimension einer vollendeten Klangkultur 

12.10.2020 | cd, dvd

CD/Blu-ray: KIRILL PETRENKO und die BERLINER PHILHARMONIKER, klingende Momentaufnahmen einer Annäherung; Berliner Philharmoniker Records

 

Der russische Dirigent und das preußische Edelorchester grüßen mit einer neuen Dimension einer vollendeten Klangkultur 

 

Eine Steigerung zu Perfektion gibt es nicht. Mit Kirill Petrenko scheint diese semantische Unumstößlichkeit betreffend das technische Können der Berliner Philharmoniker für einmal beinahe außer Kraft gesetzt. Das Berliner Orchester setzte schon immer Maßstäbe an orchestraler Kultur und makellosen Spiels. Die neue Box ist ein neuerlicher Beweis für dieses olympische Stellung in der Musikwelt.

 

Petrenko ist so überhaupt nicht das, was einer vielleicht mit russischer Seele und Pathos verbinden mag. Mit Kopf, Plan und einer hoch empfindlichen Antenne für ihre Schöpfer geht er an die hier eingespielten Symphonien und symphonischen Werke von Beethoven, Tchaikovsky, Franz Schmidt und Rudi Stephan heran. Das Ergebnis ist detailversessen und klanglich glanzvoll. Er lässt die Phrasen ein- und ausschwingen, dass auch die allerkleinsten instrumentalen Finessen zu Wirkung kommen können. Einzelne Sätze wie etwa das Allegro con brio der Siebten Symphonie von Beethoven oder der vierte Satz der Fünften Tchaikovsky explodieren nahezu vor Energie und Binnenspannung. Sie zählen zu den (sportlichen) Spitzenleistungen dieses Orchesters auf Schallplatte.

 

Bei Tchaikovskys „Pathetique“ könnte Yevgeny Mravinsky Pate gewesen sein, wie ich überhaupt finde, dass es Ähnlichkeiten in den Ansätzen der beiden Dirigenten gibt. Der erste Satz mit seinen wahnhaften Erregungen und dem apokalyptischen Fugato behält auch bei Petrenko sein ultimatives Geheimnis, erkundet aber die extremen Gefühlsregungen wie mit dem Seziermesser. Wirken bei Mravinsky neben einer bedingungslosen Werkverbundenheit bei allem strukturalistischen Perfektionsstreben das Auskosten des Moments bis zur Neige, das Unwiederbringliche und die Mystik des Augenblicks für ein wundersames Hörerlebnis, so ist Kirill Petrenko nicht weniger ,unberechenbar‘ im besten Sinn des Wortes. Die musikalische Form wird nicht mit imaginierten Gefühlen des Interpreten gefettet, das Allegro molto vivace der „Pathetique“ etwa fegt wie ein frischer Wirbelwind beim Motorradfahren durch die Lüfte. Dafür braucht der Hörer in langsamen Sätzen manchmal Geduld mit breiter genommenen Tempi und einem eigenwilligen Kreisen/Ruhen um einen ,unendlichen Moment‘. Zusammengefasst heißt das, alle Schubladen, in die man Petrenko vielleicht stecken will, rasch wieder schließen, es passt keine.

 

Von hohem Repertoirewert ist, dass die Aufnahme mit Franz Schmidts vierter Symphonie in C-Dur veröffentlicht wurde und damit die Musik dieses Wiener Spätromantikers wieder zur Diskussion gestellt wird. Petrenko bezeichnet diese „Abschiedssymphonie oder instrumentale Requiem“ als eines seiner Lieblingsstücke. Paavo Järvi und das Radio-Sinfonieorchester Frankfurt haben in ihrer jüngst veröffentlichten Gesamtaufnahme aller Symphonien ebenfalls ein Zeichen für die künstlerische Qualität Schmidts gesetzt.  


Kirill Petrenko. Foto: Monika Rittershaus

 

Für viele dürfte die Box die erste Begegnung mit dem üppig, effektvoll orchestrierten Klangkosmos der „Musik für Orchester“ von Rudi Stephan aus dem Jahr 1912 bringen. 15 Minuten an herrlichstem „symphonischem Konzentrat“ (Booklet) des unangepassten Komponisten. Anm.: Mit „Die ersten Menschen“ hinterließ Rudi Stephan auch eine interessante Oper, von der bei cpo ein Mitschnitt aus dem Berliner Konzerthaus (1998) publiziert wurde. Als 28-jähriger fiel Rudi Stephan nach nur zwei Wochen an der Front am 29. September 1915 bei Ternopil (in der heutigen Westukraine). 

 

Über die Neunte Beethoven aus Anlass der Eröffnung der Spielzeit 2019/2020 ist viel berichtet worden. Eine klassische Interpretation eines (zu) oft gespielten Werks. 

 

Die Hardcover-Edition präsentiert die Aufnahmen auf fünf CDs sowie als Pure-Audio- und Videomitschnitte auf Blu-ray. Das Booklet enthält neben zwei Essays und Einführungen zum Repertoire auch Abbildungen ausgewählter Werke der Künstlerin Rosemarie Trockel, die an der Gestaltung der Edition beteiligt war.

 

Zur Erinnerung: Im Juni 2015 wählten die Berliner Philharmoniker Kirill Petrenko zu ihrem neuen Chefdirigenten, vor einem Jahr trat er das Amt an.

 

Werkliste

Ludwig von Beethoven
Symphonie Nr. 7 A-Dur op. 92
Symphonie Nr. 9 d-Moll op. 125
mit Schlusschor über Schillers Ode »An die Freude« für vier Solo-Stimmen, Chor und großes Orchester

Peter Iljitsch Tschaikowsky
Symphonie Nr. 5 e-Moll op. 64
Symphonie Nr. 6 h-Moll op. 74 »Pathétique«

Franz Schmidt
Symphonie Nr. 4 C-Dur

Rudi Stephan
Musik für Orchester

Bonus auf der zweiten Blu-ray
Kirill Petrenko im Gespräch (49 Min.)

 

Fotos: Website von Berliner Philharmoniker Records

 

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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