CD/Blu-ray J.S.BACH SOLOSUITEN für CELLO – JEAN-GUIHEN QUEYRAS; harmonia mundi
Tanzfilmproduktion „Mitten wir im Leben sind“ von Anne Teresa De Keersmaeker plus später entstandene Studioaufnahme
Große Oper für ein Soloinstrument
Die Musik von J. S. Bach und Tanz ist eine ganz wunderbare, eigenwillige Kombination. Auf jeden Fall haben der französische Cellist Jean-Guihen Queyras und die belgische Choreografin und Solotänzerin Anne Teresa De Keersmaeker mit ihrem 1982 gegründeten Ensemble Rosas diese kammertheatralische Alliance in einem klangpoetisch dynamischen Umgarnen untereinander geschmiedet und zu einer ganz besonderen Zusammenarbeit gefunden: Vor Publikum haben sie gemeinsam an die hundertmal Johann Sebastian Bachs Solosuiten für Cello mit Tanz aufgeführt und im Jahr 2022 einen Film dazu gedreht. Darin treten Boštjan Antončič, Anne Teresa De Keersmaeker, Marie Goudot, Julien Monty und Michael Pomero – bis auf die Sechste Suite – überwiegend bewegungssolistisch in Beziehung zum Cellisten.
18 Monate nach dem Film hat sich Queyras nochmals ins Studio begeben und die hier vorliegende Aufnahme war geboren, 17 Jahre nach dessen erster Einspielung für harmonia mundi von 2007.
Queyras hat schon als Zehnjähriger begonnen, die leichteren Stücke aus den Suiten zu spielen, unbekümmert versteht sich, als knackige „Feier des Lebens.“ Als dann der Adoleszent sich näher mit den Suiten beschäftigte und die Versionen großer Cellomeister hörte, stand für den jungen Queyras nicht zuletzt die berechtigte Frage nach dem Plus im Raum, was man noch geben könne. Queyras liebte damals besonders die Cello-Suite Nr. 5, weil sie mit dem „inneren Aufruhr und der Zerrissenheit“ passgenau seine Befindlichkeit widerspiegelte. Seither blieben Bachs Suiten ständige Begleiter im Leben und Wirken des Cellisten. Im Vergleich zu seinen früheren Interpretationen will sich Queyras nun verstärkt auf das „harmonische Moment“ konzentrieren und hat sich zudem von Gambenspiel des Paolo Pandolfo (der die Suiten auf seinem Instrument aufnahm) inspirieren lassen.
Die Beziehung zwischen Tanz und Musik in Raum und Zeit auszuloten, ist nun im Projekt nicht mehr alleine Sache der fünf frei performenden Bewegungskünstler, sondern natürlich auch diejenige des Cellisten. Denn die Dynamik der sich stetig im oder außerhalb des Blickfeldes des Musikers bewegenden Körper, ihre Eleganz und ihr geschmeidiger Schwung, mal sanft, mal raubtierhaft, wirkt auf das Spiel von Jean-Guihen Queyras zurück. Der Musiker reagiert auf den Drive mancher Bewegungen, deren Heftigkeit oder metaphysische Ruhe mit harmonisch Vereinigung suchenden oder energetischen Zuspruch gebenden Tempi quasi als emotionaler Erschütterungs-Seismograf.
Die auf all die Allemandes, Courantes, Sarabandes, Menuets und Gigues sich klangkinetisch verschmelzende Ausdruckspalette reicht von Alltagsbewegungen wie Schritten und Sprüngen über den Figurenkanon klassischer (barocker) Tänze bis zu spontan wirkenden Drehungen und Windungen in der pantomimischen Weite fließender Skulpturen.
Mimik, abstraktes gegenseitiges Finden von Tonfall, Gestik und Wogen in Musik und Körpersprache variiert aber auch je nach Charakter und Typus des/der Tanzenden mit gefühlt variierender Reperkussion auf Bogenstrich und melodische Linienführung.
Ist es in der Suite Nr. Eins der körperlyrische Bewegungsmaler Michael Pomero, so begegnen wir in Suite Zwei dem athletischen, die Urkraft der Musik übersetzenden Julien Monty, in Suite Drei der waldfeenhaft fohlenfedernden Marie Goudot, in Suite Vier dem ungestüm exzentrischen Boštjan Antončič. Während der Fuge von Suite Fünf schweigen die Körper, bevor die königliche Anne Teresa De Keersmaeker im dunkler werdenden Raum in gemessenen Schritten knapp interveniert. Im blauen Licht greift die Unendlichkeit nach uns. Queyras lässt uns mit sich selbst als bildschirmfüllendes Bild ganz den letzten Tönen der fünften Suite folgen. Suite Nr. Sechs sieht das gesamte Ensemble Rosas kreatürlich auf den gedrechselt-gewundenen Pfaden des Bachschen Universums wandeln.
„Die liegende Acht mit ihrem unendlichen Austausch von Energie“ verwendet Queyras im Sinn eines langfristig gesteigerten Aufeinanderhörens als Metapher für den Austausch zwischen Interpreten und Instrument (Gioffredo Cappa 1696), aber auch zwischen Choreografin und Cellisten
Anne Teresa De Keersmaeker präsentiert vor jeder Suite mit einer eleganten Handbewegung und Fingerzeig den Cellisten und mischt sich fallweise ins Geschehen, ein kleines Stück der Raum-Körpersuche teilend und gemeinsam zurücklegend. Dabei werden mittels Klebebänder immer größere Pentagone auf den Boden appliziert. Der positive Gehalt des Symbols liegt in seiner geometrischen Harmonie und Schönheit, Zahlenverhältnisse und Proportionen selbst können für das Leben und die körperliche Unversehrtheit stehen.
Nach solch einem bildmächtigen, sich gegenseitig durchdringenden, in seiner Intensität kaum zu steigernden Zusammen von Cello und Tanz ist es eine völlige Umstellung, zur Musik alleine zurückzukommen.
Dass Jean-Guihen Queyras in seiner neuesten Aufnahme das harmonische Ganze, aber auch die verspielt, spielerische Seite der Komposition im Blick hat, ergänzt einander bestens. Da ist nichts starr, alles wogt und webt in organischer Harmonie, die Tanzrhythmen lassen das Herz höher schlagen. Spürbar hat Queyras von der Zusammenarbeit mit „Rosas“ in Sachen Flexibilität (Vibrato, Dynamik), Sanglichkeit, aber vielleicht auch als Reminiszenz an freudvoll Überraschendes des Tanzes an Leichtigkeit und Sinnlichkeit der Tongebung profitiert. Die überwältigende Sonorität des Cellos, dieses Vibrieren, das nicht nur angenehm in den Kopf erfasst, sondern sich fest in den Körper gräbt, gesellt sich zum unendlich variablen Fluss des Vortrages. Am Ende ist alles Freude und Licht. Fazit: Queyras mit der vielleicht wichtigsten Aufnahme seines Lebens. Für die Ewigkeit.
A propos und zur Erinnerung: Für das Projekt Six Suites – Six Echos beauftragte Queyras die Komponisten György Kurtág, Jonathan Harvey, Misato Mochizuki, Gilbert Amy, Ichirō Nodaïra und Ivan Fedele, jeweils ein Werk mit Bezug auf eine der Cellosuiten Bachs zu komponieren.
Dr. Ingobert Waltenberger