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CD/Blu-ray-Buch: SERGEI RACHMANINOV – Kirill Petrenko dirigiert die Berliner Philharmoniker; Berliner Philharmoniker Recordings

06.02.2024 | cd, dvd

CD/Blu-ray-Buch: SERGEI RACHMANINOV – Kirill Petrenko dirigiert die Berliner Philharmoniker; Berliner Philharmoniker Recordings

Nachträgliche Hommage zum 150. Geburtstag Rachmaninovs

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Auf diese Publikation werden viel Freunde der Musik Rachmaninovs sehnlich gewartet haben. Kirill Petrenko dirigiert anlässlich der dritten gemeinsamen Edition des Eigenlabels der Berliner Philharmoniker in zwischen Februar 2020 und Juni 2022 entstandenen Aufnahmen seine präferierten Werke des russischen Romantikers: Die Symphonie Nr. 2 e-Moll op. 27, Die Toteninsel op. 29, das Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 c-Moll op. 18 sowie die virtuosen Symphonischen Tänze op. 45.

Die ersten drei Stücke führte Rachmaninov bis zu seiner Emigration 1917 regelmäßig zusammen auf. Das 1901 uraufgeführte Zweite Klavierkonzert in c-Moll, Op. 18 mit dem Pianisten Kirill Gerstein, aufgenommen am 25.6.2022 live in der Berliner Waldbühne, war schon Gegenstand einer Publikation („Rachmaninov 150“), damals gekoppelt mit den „Corelli-Variationen“, „Im Schwiegen der geheimnisvollen Nacht“ und zwei anderen Stücken für Klavier solo (6.2.2023) .

Die 1906 bis 1908 in Dresden entstandene Zweite Symphonie in e-Moll Op. 27, mit deren in gefühlt unendlichen Themen mäanderndem ersten Satz (2 Minuten) ich mich zugegebenermaßen plage, trägt schon jenen obsessiven Dies-Irae Gedanken in sich, der sich durch große Teile von Rachmaninovs hier präsentiertem Schaffen wie ein roter Faden zieht. Dem Scherzo, mendelssohnduftig mit kunstvoll fugiertem Einschub als Hommage an Sergej Tanejew, des Komponisten Vorbild und Lehrer in Sachen Kontrapunkt, folgt ein klarinettenseliges Adagio und ein ausgelassenes Finale, wo die Gegensätze von ungezügelter Tarantella Tanzmaskerade und Gefühligkeit aufeinanderprallen.

Mein präferiertes Stück der Box ist die Symphonische Dichtung „Die Toteninsel“, Op. 29. Sie ist die älteste Aufnahme der Edition, am 16.1.2021, damals noch – wie in der Filmversion ersichtlich – als „Corona-Geisterkonzert“, ohne live-Publikum, entstanden. 1909 während der zu Ende gehenden Zeit des Komponisten in Dresden geschrieben, ist es von des Schweizer Arnold Böcklins symbolistischem Gemälde gleichen Namens inspiriert. Leben und Tod, Zypressenhain auf einem wie ein unentrinnbares Gefängnis wirkenden, monolithischen Eiland, in Felsen gehauene Gräber, ein Boot mit einem Sarg und einem grauweißen Sensenmann. Weniger wirkliche Programm-, denn atmosphärisch aufgeladene Abschiedsmusik mit den Dies-Irae Zitaten vom Jüngsten Gericht aus der gregorianischen Totenmesse, enthebt „Die Toteninsel“ als impressionistisches Meisterwerk der Sonderklasse, Rachmaninov jenem generellen Vorwurf einer sentimentalen Hyperromantik à la Hollywoods herzschmerzlicher Klangmaschinerie.

Ob subjektiv aus einer bestimmten Lebensphase des Komponisten abgeleitet, oder ein typisch zeitgeistiger Fin-de-siècle-Abgesang, Modernität versus versteinerte Traditionen, die Berliner Philharmoniker erweisen sich einmal mehr als das denkbar brillanteste Orchester. Die Streicher, insbesondere die Celli, haben unter Petrenko an Wärme, Dichte und Glanz noch zulegen können, gurren voller unheimlichem Flirren und dunkler Ahnung. Ruder- als Herzschlag und mahnende Posaunenrufe generieren eine ungeheure binnenarchitektonische Suspense.

Trailer: https://www.youtube.com/watch?v=vi22fzM8QuI

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Ebenso beeindrucken die von den Berliner Philharmonikern 2010 unter der musikalischen Leitung von Sir Simon Rattle erstmals gespielten Symphonischen Tänze Op. 45. Dieses wunderbare 35 Minuten lange, ursprünglich als Ballettmusik mit dem Titel „Fantastische Tänze“ konzipierte Opus stellte Rachmaninov im amerikanischen Exil, 1940 in Huntington auf Long Island, während des Zweiten Weltkriegs fertig. Kirill Petrenko hat die Tänze im März 2021 aufgeführt, erstmals waren im Zuge einer schrittweisen Normalisierung des Kulturlebens nach Corona wieder 1000 Gäste im Publikum zugelassen.

Das Werk trägt zu Beginn des ersten Satzes neoklassische Züge, für Rachmaninovs Verhältnisse ein nahezu sparsamer und transparenter Start. Später zieht Rachmaninov alle Register seines Könnens, Eigenzitate aus Symphonien und Dies-Irae Wut mit inbegriffen. Im weiteren Verlauf ändert sich der Charakter vollends, zur klassischen Riesenorchesterbesetzung gesellen sich Altsaxophon, Klavier, Harfe und eine Perkussionsgruppe mit Pauken, Tamburin, Triangel, Kleine und Große Trommel, Becken, Tamtam, Glockenspiel, Xylophon und Glocken. Mittag, Sonnenuntergang und Mitternacht“, lauteten ursprünglich die letztlich nicht aufgenommenen Überschriften der drei Sätze. Im dritten Satz feiern Dies Irae und orthodoxes Halleluja gemeinsam Urständ. In den „Symphonischen Tänzen“ überrascht die Mixtur aus Russischem und Westlich-Anverwandtem, letztlich spiegeln sie in höchstem instrumentalen Raffinement die erotischen und spirituellen Erfahrungen des Komponisten. Ob da in diesem, Eugene Ormandy und dessen Philadelphia Orchestra gewidmeten letzten Werk des Komponisten nicht auch Anklänge an amerikanische Musik auszumachen sind? Am Schluss obsiegt das Halleluja über das Dies Irae, ein ziemlich klares Statement.

Und die Berliner Philharmoniker? Orchesterkultur vom Feinsten, geschmeidig verrutschte Walzer, harte Kontraste, Totenraserei, Klangektasen und religiös orthodoxes Furioso. Besser geht es nicht!

Trailer zu den Symphonischen Tänzen

https://www.youtube.com/watch?v=VSKHsqbZ-aY

Erhältlich auf 2 CDs und einer Blu-ray in einer Hardcover-Box mit einem vom Fotokünstler Thomas Struth gestalteten Begleitbuch oder als 24-bit Download.

Dr. Ingobert Waltenberger

Foto: Presseinfos der Berliner Philharmoniker

 

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