CD „BEYOND“ JAKUB JÓSEF ORLINSKI präsentiert Musik um die Zeit des Seicento – ein vokal-instrumental gemischtes Raritätenprogramm mit Weltpremieren u.a. von Cavalli, Netti, Sartorio, Bernabei und Vitali; Erato
Großteils unbekannte Vokal- und Instrumentalwerke von 18 Komponisten des 17. Jahrhunderts: Ob Opernarien, Kantaten, Serenaden, Canzoni für Solostimme oder ausgewählte Sonaten, Sinfonias und Concerti im Übergang von der Renaissance zum italienischen Frühbarock, der Musikwissenschaftler Yannis François hat der Idee des Albums, den musikalischen Schönheiten des Seicento abseits ausgetretener Pfade nachzuspüren, einen dramaturgisch ausgefeilten Rahmen verpasst.
Es soll der Eindruck vermittelt werden, einem echten Konzert zu lauschen, mit „direkten Verknüpfungen zwischen den einzelnen Stücken, improvisierten Instrumentalübergängen und einer in sich geschlossenen Abfolge von Stimmungen, Tonarten und musikalischen Themen, die unmittelbar, nahezu plastisch, ineinandergreifen.“ Mit dem polnischen Star-Countertenor Jakub Jósef Orlinski und dem Originalklangensemble Il Pomo d’Oro stehen zur Interpretation auf Alte Musik spezialisierte Partner bereit.
Im Gegensatz zum virtuoseren, in endlosen, die Stimme der Sängerstars zirkushaft möglichst vorteilhaft und spektakulär zur Schau stellenden Koloraturen und Verzierungen der in da capo Arien sich verzehrenden Affekte im 18. Jahrhundert dreht es sich bei vielen dieser um ein Jahrhundert früher entstandenen vokalen Preziosen um kürzere, intensive dramatische Szenen mit einer der Wahrhaftigkeit des Ausdrucks dienenden, reduzierten Gesangslinie. Wort und Ton waren in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts inniger miteinander verknüpft, die Themen liedhaft kecker, in den Farben der begleitenden Instrumente sich spiegelnd. Als Beispiel möge das wunderschön schmachtende Madrigal a voce solo „Amarilli, mia bella“ von Giulio Caccini dienen. Da dramatische Ausdruckskraft und Sinnlichkeit im Fokus standen, dienten die Verzierungen der expressiven Schärfung von poetisch verbrämten Emotionen. Die melodisch-harmonische Führung der Gesangsstimme begann bei Claudio Monteverdi, der hier mit der Arie des Ottone ‚E pur io torno qui‘ aus der Oper „L’incoronazione di Poppea“ vertreten ist, die musikalische Aussage zu markieren.
Die künstlerischen Ambitionen des Albums beschränken sich nicht nur darauf, die stilistische Bandbreite einer musikalischen Epoche zu erkunden, sondern Orlinksi und François stellen – wie in den Alben zuvor – jeweils wenig bis nicht bekannte, prägende Komponisten in den Mittelpunkt. Waren das in „Anima sacra“ Nicola Fago, der CD „Facce d’Amore“ Giovanni Antonio Boretti und Luca Antonio Predieri und bei „Anima Aeterna“ Jan Dismas Zelenka, so ist die künstlerische Galionsfigur auf dieser CD Giovanni Cesare Netti
Der aus Bari stammende Komponist ist auf dem Album mit je zwei Arien aus den Opern „La Filli“ und „L’Adamiro“ vertreten. In ‚Quanto piu la donna invecchia‘ und ‚Son vecchia, pazienza‘ aus „L’Adamiro“ klagt die betagte Amme Crinalba spitzzüngig bis larmoyant, warum ihre Liebe zum ohnedies grauslichen Diener Squilletto unerwidert bleiben muss. Die Eigenerkundung der heiklen Frage nach möglichen Zusammenhängen von abnehmender erotischer Nachfrage und nachlassender Spannkraft des Fleisches läuft, wie wir wissen, nicht immer harmonisch ab.
Der im neapolitanischen Conservatorio della Pietà dei Turchini ausgebildete Netti erweist sich auch in den anderen vorgestellten Arien als origineller Kopf, der melodisches Schmachten mit abrupten dissonanten chromatischen Wendungen wechseln lässt. Die Arien des Hirten Berillo aus „La Filli“ (oder „La moglie del fratello“) zeigen uns einen jungen bockigen Mann, der nicht verstehen will, dass seine geliebte Filli (die sich später ohnedies als seine Schwester entpuppt) den Jäger Tirsi bevorzugt.
Zwei reine Instrumentalstücke des Programms sind nicht Italien zuzuordnen, und zwar die Sonata für 2 Violinen und Continuo in F des Bach-Vorgängers Johann Caspar Kerll und das kriegerische „Tamburetta“, ein Concerto a 3 voci & continuo des polnischen Geigers, königlichen Architekten, Dichters und Komponisten Adam Jarzębski.
Jakub Jósef Orlinksi erweist sich mit seinem burschikosen, vibratoarm strömenden Countertenor als sensitiver Fürsprecher der einfach-innigen Lieder. Aber auch die grotesk charaktervollen Genreszenen und, wie wir das von ihm vielfach kennen, die virtuoseren Tracks, geht er mit Passion und nicht minder Lust an Wortspielerei und Klangschattierungen an. Dabei zeigt der hochmusikalische Sänger mit der gut fokussierten und in allen Lagen bruchlos gleichermaßen ansprechenden Luxusstimme, über welch weit gestreute Ausdruckspalette er verfügt. Sein schauspielerisches Talent überträgt sich in dieser hochexpressiven Musik auch ohne Bühne mit rein stimmlichen Mitteln. Das Ensemble Il Pomo d’Oro, diesmal ohne Dirigenten dabei, erweist sich als gewiefter Klanggestalter, sei es in der lebendigen Begleitung oder den rhythmisch vielschichtigen, rein instrumentalen Stücken, wie der Sinfonia zu „Demetrio“ von Carlo Pallavicino.
Schon mal was von Sebastiano Moratelli gehört? Nein? Dann können Sie das nun nachholen. Vor allem, weil Orlinski diese Klagearie Amors über dessen Reise nach Amerika, um seinen irgendwo verlorenen, berührtem Köcher mit den Pfeilen zu finden, unnachahmlich schmerzumflort vorträgt. Keiner will ihn in der „Neuen Welt“ verstehen. Dieses wunderbare Lamento ist die letzte Nummer der mit über 82 Minuten Spielzeit prall gefüllten CD. Empfehlung!
Inhalt der CD
- Claudio Monteverdi: ‚E pur io torno‘ aus „L’Incoronazione di Poppea“; Canzone ‚Voglio di vita uscir‘
- Johannes Hieronymus Kapsberger: Libro quarto d’intavolatura di Chitarone
- Giulio Caccini: Madrigale ‚Amarilli, mia bella‘
- Girolamo Frescobaldi: ‚Cosi mi disprezzate‘ aus „Primo libro d’arie musicali per cantarsi“
- Barbara Strozzi: ‚L’Amante consolato‘ aus „Cantate, ariette e duetti“ Op. 2
- Francesco Cavalli: ‚Incomprensibil nume‘ aus „Pompeo Magno“
- Johann Caspar Kerll: Sonate für 2 Violinen & Bc F-Dur
- Claudio Saracini: ‚Udite, lagrimosi spirti d’Averno‘ (Le seconde musiche Nr. 1)
- Carlo Pallavicino: Sinfonia aus „Demetrio“
- Pietro Paolo Cappellini: Tarantella ‚Chi vuol ch’il cor gioisca‘
- Giovanni Cesare Netti: Arien aus „La moglie del fratello“: „Quanto piu la donna invecchia‘, ‚Son vecchia, patienza‘ aus „L’Adamiro“
- Antonio Sartorio: ‚La certezza di sua fede‘ aus „Antonino e Pompeiano“
- Biagio Marini: ‚La vecchia innamorata‘ (Scherzi & Canzonette op. 5) (Instrumentalversion)
- Ercole Bernabei: ‚A battaglia, su, mio core‘ aus „Il segreto d’amore in petto del Savio“
- Adam Jarzebski: Tamburetta aus ‚Concerto a 3 voci & continuo‘ (instrumental)
- Giovanni Battista Vitali: Kantate „Donde avvien che tutt‘ ebro“
- Carlo Francesco Pollarolo: ‚Come allor che piu densi‘..; ‚Son tanto avvezzo a piangere‘ aus „La Costanza gelosa negl’amori di Cefalo e Procri“
- Sebastiano Moratelli: ‚Lungi dai nostri cor‘ aus „La Faretra smarrita“
Dr. Ingobert Waltenberger