CD: BENJAMIN BILSE: KALEIDOSCOPE • West Side Sinfonietta, Marcin Danilewski
Zu seiner Zeit höchst populär, heute praktisch komplett vergessen
Neueste Silberscheibe der Label des Breslauer Nationalen Forums für Musik und CD Accord ist eine ausserordentlich ansprechender Querschnitt durch das Schaffen von Benjamin Bilse (1816-1902). Es ist einer jener Komponisten zu entdecken, die zu ihrer Zeit höchst populär waren, heute aber praktisch komplett vergessen sind.
Johann Ernst Benjamin Bilse wurde am 17. August 1816 im niederschlesischen Liegnitz (heute: Legnica) als Sohn eines Gastwirts geboren. Über die Jugend von Bilse ist wenig bekannt: überliefert ist, dass er ein guter Schüler und Chorsänger war. Erste musikalische Instruktionen erhielt vom Schmied und Gelegenheitsmusiker Jasper, mit dessen «Bierfiedlern» schon bald durch die Gaststätten der umliegenden Dörfer zog. In Liegnitz durften auf Betreiben der Stadtpfeifer keine fremden Musikanten auftreten.
1831 schloss Bilses Vater beim Liegnitzer Stadtmusikus Scholz einen Lehrvertrag als Stadtpfeiferlehrling für seinen Sohn ab. Das bedeutete nun aber nicht, dass Bilse konsequenten Unterricht erhalten hätte. Die Lehrlinge waren auf sich gestellt und mussten sich die notwendigen Fähigkeiten gegenseitig beibringen. Bilse lernte als Autodidakt.
1842 beschliesst er nach Wien zu gehen, um das Musikleben der Hauptstadt kennenzulernen und sich als Violinist (beim Virtuosen Joseph Böhm) weiterzubilden. Um Geld zu verdienen, spielte er als Violinist im Orchester von Johann Strauss Vater.
Bereits im Herbst 1842 kehrte Bilse nach Liegnitz zurück, denn er war Stadtmusikus geworden. Trotz mässiger Entlöhnung legte Bilse nun eine andere Dienstauffassung an den Tag als sein Amtsvorgänger Scholz: Er warb gezielt junge Musiker an um diese im eigenen Lehrinstitut (Konservatorien gab es zu dieser in Schlesien nicht) auszubilden und damit ein grösseres Orchester aufzubauen. Rasch erwarb sich das Orchester einen hervorragenden Ruf und mit dem Anschluss Liegnitz ans Eisenbahnnetz (1844 in Richtung Breslau, 1847 in Richtung Görlitz und weiter nach Berlin, Leipzig, Dresden) wurden Konzert-Tourneen wesentlich einfacher.
Konzertreisen führten die «Bilse’sche Kapelle» quer durch Europa in die grossen Musikzentren (vor allem Berlin) und regelmässig auch zu Monarchen (Sanssouci, Pawlowsk). Höhepunkt war, dass Johann Strauss, 1867 zur Weltausstellung nach Paris eingeladen, darauf bestand, dass Bilse und sein Orchester ihn begleiteten. So gaben die beiden Musiker in Paris gemeinsame Konzerte. Der Ruf der «Bilse’schen Kapelle» war legendär, in Sachen Qualität wie Offenheit für neue, zeitgenössische Werke. Gerhart Hauptmann und Piotr Tschaikowski lobten die Konzerte, Adolph Menzel malte ihn.
1882 kam es zum Streit Bilses mit seinen Musikern: 54 verliessen sein Orchester und fanden sich unter dem Namen ehemalige «Ehemalige Bilse’sche Kapelle» zusammen. Bald schon fanden die Abtrünnigen einen neuen Namen: Berliner Philharmonisches Orchester.
«Die Fürstensteiner. Tongemälde in Form eines Walzers. op. 28» (Introduction, Walzer Nr. 1-5, Finale) widmete Bilse dem Schlossherrn und begeisterten Jäger Graf Heinrich XI Hochberg. Das Tongemälde beschreibt die «Schönheit und Erhabenheit» von Schloss Fürstenstein, dem wohl bekanntesten Schloss Niederschlesiens. Als Weltersteinspielung ist «Liegnitzer-Breslauer Eisenbahn-Galopp op. 3» (Maestoso – Marcia: Allegro – Andante – Galopp) zur Eröffnung der entsprechenden Bahnlinie vertreten. Die «Friedrich-Wilhelms-Quadrille» (Pantalon, Été, Poule, Trenis, Pastourelle, Finale; ebenfalls Weltersteinspielung). Die «Königs-Polonaise op. 26» entstand als Auftrag des Breslauer Magistrats zum Besuch des Königspaars. Uraufgeführt am entsprechenden Gala-Ball konnte Bilse dem Monarchenpaar eine speziell gestaltete Kopie des ihnen gewidmeten Stücks überreichen. Über «Schlesische Lieder. Original-Melodien für zwei Violinen und Orchester op. 20» (Introduction und Melodien Nr. 1-5) ist kaum etwas bekannt. Aufführungen sind bei Konzerten im Sommer 1862 in Hamburg nachgewiesen. Der «Schützen-Marsch op. 13» führt zurück in die 1850er-Jahre und Bilses Liegnitzer Zeit: Die Musik für die Auszüge der Schützen gehörten zu den Aufgaben des Stadtmusikus. Die «Silesia-Polka» (ebenfalls Weltersteinspielung) widmete Bilse dem schlesischen Wohltäter Fürst Victor I Herzog von Ratibor, Fürst von Corvey. Der «Victoria Walzer op. 22» (Introduction, Walzer Nr. 1-5, Finale) entstand anlässlich der Hochzeit von Prinzessin Victoria und Prinz Friedrich I Wilhelm. Der «Sturm-Marsch-Galopp op. 6» war eines der populärsten Stücke Bilses: 1847 musste er bei einem Konzert in Schloss Sanssouci viermal wiederholt werden, bei vielen anderen Konzerten gab es bis zu drei Wiederholungen.
Bilses Musik ist (in dieser Zusammenstellung) äusserst vielfältig und erinnert bei den einschlägigen Stücken an die Musik der Strauss-Dynastie, bleibt dabei aber immer eigenständig. Besonders reizvoll sind der Schützenmarsch mit seinen Anklängen an italienische Musik oder die Schlesischen Lieder (Solo-Violinen: Marcin Danilewski, Karolina Hyla-Wybraniec).Die West Side Sinfonietta spielt die Stücke mit grandiosem Schmiss und der notwendigen Präzision, gerät dabei aber nie ins «Walzern»
Musik, die man nicht nur an Neujahr mit grossem Genuss hören kann!
05.12.2023, Jan Krobot/Zürich