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CD BEETHOVEN LEONORE 1805 – Marlis Petersen in der Titelrolle, René Jacobs dirigiert das Freiburger Barockorchester; harmonia mundi

26.10.2019 | cd

CD BEETHOVEN LEONORE 1805 – Marlis Petersen in der Titelrolle, René Jacobs dirigiert das Freiburger Barockorchester; harmonia mundi

Veröffentlichung: 15. November 2019

Also, ob der dreiaktige Erstling „Leonore“ aus dem Jahr 1805 nun im Vergleich zur dritten Version der Oper, unter dem Titel „Fidelio“ in die Musikgeschichte eingegangen, die gelungenste ist, wie dies Dirigent René Jacobs anlässlich seiner Tournée 2017/18 landauf landab behauptet hat, ist eine müßige Frage. Sicherlich ist die dramaturgische Entwicklung vom Singspiel (Marzelline als Hauptprotagonistin) über melodramatisches Rührstück (Leonore im Mittelpunkt) hin zum tragischen Musikdrama (Florestan) in der frühen Oper stringent nachzuzeichnen.

Eigentlich kann durch die mächtigen Verschiebungen der Akzente im gesamten Aufbau, der Personenkonstellationen, der unterschiedlichen Kerkerszene und des Finales als auch des anderen Fachs von Leonore und Florestan 1805 und 1814 von zwei eigenständigen gleichrangigen musikdramatischen Schöpfungen gesprochen werden. Insoferne ist Herrn Jacobs Einsatz (wie vor ihm schon derjenige des Musikologen Willy Hess) mehr als zu begrüßen, als er ein überzeugendes Plädoyer dafür hält, dass „Leonore“ ein großer Wurf ist. „Fidelio“ mit dem großen Finale ist nicht die „entwickeltere“ oder final „ausgearbeitetere“ Oper, sondern „nur“ die im damaligen Sinne modernere. „Leonore“ darf sicherlich den Rang eines Meisterwerks für sich beanspruchen. Hier verträgt die Musikgeschichte schon eine Korrektur.

Wir erinnern uns: Drei Fassungen sind überliefert. Die erste und längste Version des 35-jährigen Beethoven 1805. Nach dem Misserfolg der Uraufführung (fast ausschließlich vor französischen Soldaten mit unzulänglichem Orchester und Sängern) und dem Rat seiner Freunde, die Oper wäre zu lang, erstellte Beethoven eine grausam zusammengestrichene zweiaktige Fassung 1806. Im Laufe der Zeit hat sich jedoch die Auffassung verfestigt, nur der Fidelio von 1814 sei das Werk eines reifen Komponisten, „als ob der Beethoven von 1805, der bereits die „Eroica“ geschrieben hatte, noch ein junger Lehrbub gewesen wäre.“ (René Jacobs).

So richtig breitenwirksam entdeckt und mit Leonore 1805 sogleich einen sängerischen Superhit gelandet hat Herbert Blomstedt, der das Werk mit seiner epochalen Einspielung aus dem Jahr 1976 mit der Staatskapelle Dresden, dem Rundfunkchor Leipzig, einer vom hochdramatischen Aplomb und Koloraturmacht nicht überbietbaren Edda Moser in der Titelpartie, Richard Cassily, Theo Adam, Helen Donath und Karl Ridderbusch erstmals in Studioqualität auf Tonträgern verfügbar machte. Sir John Eliot Gardiner hat später noch einen historisch informierten Versuch einer Mischfassung gewagt, der gar nicht berauschend ausfiel.

Die enorme Stärke der Neuaufnahme mit René Jacobs liegt in dem individuellen, ungemein plastischen und bei aller Detailverliebtheit der flächig aufgedröselten Partitur dramatisch geschürzten Dirigat. Dass mit der feinnervigen, flotten Gangart hier erstmals die stilistischen Paten Mozart und Cherubini erahnbar sind, ist ebenso erfreulich und wie die enorme Qualität von Chor (wunderbar in jeder Hinsicht die junge Zürcher Sing-Akademie) und Orchester. Das Freiburger Barockorchester steuert mit seinem fabelhaften Holz und Blech gleich ab der unangepassten und zerklüftet überschäumenden Leonoren II Ouvertüre (als genuine Tondichtung ein Trumpf an instrumentaler Erzählkunst) eine überwältigende Fülle an Klangfarben bei. Die Oboen und Flöten durften in bester Barockmanier vis a vis von den hohen Streichern Aufstellung nehmen. Wir erleben eine Orchesterkultur auf höchstem Niveau, was auch der Tatsache geschuldet sein dürfte, dass ausreichend geprobt und die Oper auf Tournee sieben Mal in sechs Ländern aufgeführt worden ist. Die Live-Aufnahme selbst stammt vom 7. November 2017 aus der Salle Pierre Boulez, Philharmonie de Paris.

Ein weiteres Atout der neuen Aufnahme sind die sorgfältigst überarbeiteten Dialoge und Texte von Sonnleithners Libretto, die eine exzellente Balance herstellen und dem Personal der Oper ohne Peinlichkeiten ein dramaturgisch knackiges Profil verleiht. Für die Revision der Dialoge wurde auf alle vier existierenden Libretti einschließlich des französischen Dramas „Léonore ou l’Amour conjugal“ von Jean-Nicolas Bouilly zurückgegriffen. Dem Stück liegt ja angeblich die wahre Geschichte einer Madame Tourraine zugrunde, die als Mann verkleidet ihrem Gatten aus der Gefangenschaft der Jakobiner in Tours befreit haben soll.

Die Besetzung ist aber nur zum Teil rollendeckend bzw. vokal befriedigend. Leider ist Marlis Petersen mit der Titelrolle weniger technisch, aber vor allem von Stimmvolumen und Strahlkraft her überfordert. Da nützen auch ihr lyrisch intelligenter Vortrag und die sublime Textausdeutung nichts. Wegen der schmalen Mittellage und den zarten Höhen taugt Petersen eher zur Marzelline als für diese so schwierige dramatische Koloraturpartie. Außerdem unterscheidet sie sich von Timbre und Stimmtyp nur wenig von Robin Johannsen, die wiederum eine ausgezeichnete Marzelline voller Selbstbewusstsein und verführerischem Charme ist. Ihr saftig lyrischer Sopran eignet sich vorzüglich zu dieser in der Version von 1805 bedeutenderen Rolle einer liebend fürsorglichen jungen Frau. Aktuell singt Frau Johannsen in Berlin ebenfalls unter René Jacobs Stabführung bei den Barocktagen in Purcells „King Arthur“ an der Staatsoper Unter den Linden. Als ihr sein Recht auf Liebe vehement einfordernder Verehrer Jacquino liefert Johannes Chum die nötige tenorale Überzeugungskraft.

Der rund und sonor tönende russische Bass Dimitry Ivashchenko ist für die väterliche Rolle des Rocco eine Idealbesetzung. Johannes Weisser versucht sich als Bösewicht Don Pizzarro und damit in einer Rolle, die für ihn eine Nummer zu groß ist. Tareq Nazmi verströmt in der staatstragenden Rolle des Ministers Don Fernando humane Autorität. Mit Maximilian Schmitt als Florestan ist kein Heldentenor, sondern ein kultivierter Konzert- und Liedsänger mit einem hellen, wohlklingenden lyrischen Tenor aufgeboten. Extreme Gefühlsausbrüche sind seine Sache nicht. In Sachen musikalische Korrektheit und technisch ausgefeilte Tonproduktion gibt es nichts zu beckmessern.

Mit 2h20 Minuten ist Jacobs im Vergleich zu Blomstedt (2h35) ziemlich schnittig unterwegs. Die Temporegie René Jacobs gefällt  mir ausnehmend gut, da ist Tempo drin, die die Dramaturgie des Stücks stützt und glaubwürdig macht. Meine Empfehlung: Die neue Jacobs Aufnahme und die CD-Version mit Blomstedt anschaffen und dann im Opernglück schwelgen, einmal orchestral und chorisch, das andere Mal sängerisch. 

Für aufführungshistorisch Interessierte: Die Bregenzer Festspiele hatten schon 1960 „Leonore“ im Programm. Damals mit Zadek, Scheyrer, Dermota, Schöffler und Braun. Die Aufnahme war auch als CD bei Melodram Live Recordings erhältlich. 

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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