CD „BE STILL MY HEART“ – Lieder von ROBERT GUND und WILHELM GROSZ; Alpha
CHRISTIAN IMMLER und HELMUT DEUTSCH in bester Entdeckerlaune – Weltersteinspielungen
Musik kennt keine Grenzen und musikalische Eingebungen gehören noch immer zum erfreulich Rätselhaftesten und, was die Kunstform Lied anlangt, zum Bezauberndsten, was der Mensch je geschaffen hat. Außer den ewigen Meisterwerken, die weltweit in den Kanon des Konzertlebens eingegangen sind, werden dank der Initiative von Musikwissenschaftlern, Sängern und Pianisten immer wieder Komponisten oder Komponistinnen dem Vergessen entrissen, deren Werke vom ersten Moment an für sich einnehmen.
Einer davon ist der in der Schweiz geborene Robert Gund, der künstlerisch ganz in Wien verortet war und dessen kompositorische Eigenart im überaus reichen und kreativen Wiener Musikleben des ausgehenden 19. Jahrhunderts und der Jahrhundertwende verankert liegt. Von diesem famosen Gund können nun 20 Lieder auf dem neuen Album von Christian Immler und Helmut Deutsch entdeckt werden. Gesanglehrer, war er, Pianist und Dirigent. Als Komponist machte Robert Gund neben Werken für Klavier vor allem mit seinen Liedkompositionen von sich reden. Er konzertierte mit Brahms, gab Alma Mahler Stunden und war Vorstandsmitglied von Schönbergs „Vereinigung schaffender Tonkünstler“ in Wien, deren Ehrenpräsident Gustav Mahler war.
Sein aus dem romantisch inszenierten Dichterwort erwachsener musikalischer Stil ist grosso modo der Wiener (Spät)Romantik des fin de siècle zuzurechnen. Die Zweite Wiener Schule hat keine Spuren in seinem Werk hinterlassen. Das heißt aber nicht, dass Gund weniger experimentierfreudig gewesen wäre als viele seiner Zeitgenossen. Stilistisch näher an Johannes Brahms bis Hugo Wolf als an Richard Strauss oder an Gustav Mahler, fällt in vielen Liedern besonders der elaborierte Klavierpart auf („Landschaft im Spätherbst“, „Abendständchen“, “Nacht“), der der Gesangslinie als gleichberechtigter Finder daran wirkt, den lyrischen Gehalt der Dichtung klangpoetisch auszudeuten. Gleich bei den anfangs erklingenden Liedern „Drei Zigeuner“ (aus Op. 10) und „Julinacht“ (aus Op. 16) fällt die dramatische Eindringlichkeit und der weit gespannte Tonumfang der Kompositionen auf, die diese Lieder in die Nähe des Opernhaften rücken.
Was ebenso rasch evident wird, dass Gund ein begnadeter Melodienfinder und passionierter Mensch war (z.B. „Die Nachtigall“ als hinreißende Alternative zur Vertonung von Alban Berg) und eine Vorliebe für balladeske Erzählweisen hegte. („Schön Rotraut“, „Es ist ein Flüstern in der Nacht“, „Nacht“)
Wilhelm Grosz, 1894 in Wien auf die Welt gekommen, war u.a. Schüler von Franz Schreker. Seine Laufbahn als Komponist, Dirigent, Pianist und Musikwissenschaftler führte ihn nach Mannheim und Berlin, wo er neben seiner Gabe als „klassischer“ Komponist mit großem Erfolg die Operette, das Schlagermetier und die instrumentale Unterhaltungsmusik für sich entdeckte und auch als Arrangeur und Filmmusikschreiber das Musikleben bereicherte. Von den Nationalsozialisten aufgrund seiner jüdischen Herkunft zuerst in Deutschland und später auch in Österreich verfolgt, floh Grosz mit seiner Familie 1934 nach England, wo er unter den pseudonymen Hugh Williams und André Milos als populärer Songwriter in Erscheinung trat. Erich Wolfgang Korngold war es, der Grosz 1939 in die USA holte. In New York und in Hollywood schrieb er noch Songs und weniges für den Film, bevor ein Herzinfarkt seinem Leben im Dezember desselben Jahres ein Ende setzte.
Grosz‘ Tonalität ist im Unterschied zu Robert Gund ganz dem 20. Jahrhundert verhaftet. In vier „Lieder der Sehnsucht“ Op. 22b ist eine exotische-flirrende, zugleich eingängig hoch emotionale Klangsprache zu entdecken. Gemeinsam mit den „Liedern an die Geliebte“ Op. 18 nach Worten des Dschenab Schehabbüdin Bey, bearbeitet von Hans Bethge und vier englischsprachigen Songs („The Red Maple Leave“, „Candles in the Sky“, „You are my Song“, „Lonesome Gondolier“) erhält der Hörer einen Eindruck von der enormen stilistischen Vielfalt und dem unerschöpferischen Füllhorn von Wilhelm Grosz Eingebungen. Die in England und den USA geschriebenen Lieder von Grosz haben sogar Musiklegenden wie Frank Sinatra und Nat King Cole inspiriert.
Der deutsch-schweizer Bassbariton Christian Immler hat sich diese zauberisch-romantischen Lied-Universen stimmlich vollkommen zu Eigen gemacht. Er weiß mit seinem karamellig-kernigen, überaus wohlklingend timbrierten Bariton dynamisch differenziert und ausdrucksstark wieder einmal unter Beweis zu stellen, dass er einer der fundiertesten und vokal aufregendsten Liedinterpreten der Jetztzeit ist. Immler vermag mit einer stupenden Atemtechnik lange Legatobögen zu spinnen, aber zugleich rhythmisch markant zu artikulieren und vollmundig vokale Höhepunkte zu setzen. Dazu sind seine Wortdeutlichkeit und die erzählerische Dichte seines Vortags ein Traum.
Helmut Deutsch, Immlers mitschöpferischer Partner am Flügel, setzt mit unzähligen Anschlagsvarianten und seinem untrüglichen pianistischen Gespür zusätzlich atmosphärische Akzente, die mit dem Gesang von Christian Immler zu einer höheren künstlerischen Einheit verschmelzen.
Das Album kann in seiner immensen Bedeutung für das deutsche Liedschaffen gar nicht genug gewürdigt werden, setzt es doch in der Erforschung, Erarbeitung, Pflege und leidenschaftlichen wie kenntnisreichen Interpretation jene Maßstäbe, die in der französischen Musik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts schon des längeren gang und gäbe sind; jüngst wieder eindrücklich mit den Alben „The Complete Songs“ von Gabriel Dupont mit Cyrille Dubois/Tristan Raës oder den „Mélodies“ von Liza Lehmann mit Lucile Richardot/Anne de Fornel.
Fazit: Ein musikhistorisch wichtiges, ein wahnsinnig schönes, ein ungemein sinnenanregendes Album!
Dr. Ingobert Waltenberger