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CD „BARITENOR“ – MICHAEL SPYRES singt Arien für Bariton und Tenor. Erato

23.09.2021 | cd

CD „BARITENOR“ – MICHAEL SPYRES singt Arien für Bariton und Tenor von MOZART, MÉHUL, SPONTINI; ROSSINI, ADAM, DONIZETTI, THOMAS, OFFENBACH, WAGNER, LEONCAVALLO, LÉHAR, RAVEL, ORFF und KORNGOLD; Erato

 

Unverschämt gut!

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 Eine CD, die viel diskutiert werden wird. Sie ist nichts für diejenigen, die alles eingekastelt und kategorisiert haben wollen. Denen wird auch der – historisch gut darstellbare – Freiheitsausbruch des Michael Spyres vielleicht zu schaffen machen. Oder auch nicht. Denn Michael Spyres gelingt es nicht nur, die Noten von Figaro-Graf (Mozart), Idomeneo, Graf Luna, Hoffmann, Lohengrin oder Danilo irgendwie zu singen. Der US-amerikanische Tenor, der sich primär als Belcanto-Spezialist mit stratosphärisch sicheren Höhen einen weltweit exzellenten Ruf erarbeitet hat, erfüllt jede der auf dem spektakulären Album eingespielten Rolle auch von Charakter, Stil oder welcher Tessitura auch immer her spielerisch. Spyres‘ viril granulierter Baritenor, dem Rossini-Ziergesang wie heldisches Auftrumpfen gleichermaßen in der Kehle liegen, verfügt über eine stupende Technik, sitzt felsenfest und ist bestens fokussiert. Ob das irgendwie an Gedda erinnernde Timbre jedermanns Sache ist, mag eine andere Frage sein.

 

Spyres hält das Stimmfach des Baritenors für ein in Vergessenheit geratenes Stimmphänomen, das sich von der Barockmusik im 18. Jahrhundert über manche Rossini Rollen und den Versimo bis heute erstreckt. Als konkrete Beispiele einer derart gegabelten Stimme nennt er Jean-Blaise Martin oder Manuel Garcia, der nicht nur den Grafen Almaviva bei der Premiere von Rossinis „Il Barbiere di Siviglia“ sang, sondern auch Mozarts Almaviva in „Le nozze di Figaro.“

 

Mozart schrieb die Arie des Königs aus „Idomeneo“ für Anton Raaff und stattete die Musik mit einem Höchstmaß an Verzierungen aus. Auch in „Le nozze di Figaro“ experimentierte er mit dem aufkommenden Baritonfach. Anlässlich der Überarbeitung der Oper für Wien, komponierte er eine Alternativfassung der Arie ,Hai già vinta la causa‘, die einige „der schwierigsten Spitzentöne enthält, die jemals geschrieben wurden: 14 Mal das viergestrichenen ,g‘. Dementsprechend gibt es von dieser Version nur eine Aufnahme mit Fischer-Dieskau (DECCA1969) und eben jetzt mit Michael Spyres. Auch die Titelpartie des Don Giovanni sangen im 19. Jahrhundert oftmals ausgewiesene Tenöre, wie Andrea Nozzari, Adolphe Nourrit oder Giovanni Battista Rubini. Mozart forderte eben von seinen Primi Uomini „die Fähigkeit, sowohl komisch als auch verführerisch zu sein, statt sich nur auf einen ausgewogenen lauen Charakter und die Schönheit seiner Stimme zu verlassen.“

 

Der nächste Schritt fiel in die Zeit Napoleons, wo Baritenöre der romantischen Oper und final dem Heldentenorfach den Weg ebneten. Étienne Méhul („Ariodant“) und Gaspare Spontini („La Vestale“) waren zwei der produktivsten und einflussreichsten Komponisten ihrer Zeit. Méhul schrieb die Rolle des Edgard aus „Ariodant“ (auf dem Album hören wir eine Weltersteinspielung) für Jean-Pierre Solié. Der war Tenor, wurde ebenso als Bariton gefeiert und sang auch Bassrollen. So war Solié der Jacob in der Uraufführung von Méhuls biblischer Oper „Joseph“. 

 

Spyres wendet sich auf dem Album nach der Arie des Licinius aus „La Vestale“ Rossini zu. Wer die fantastische Rossini-CD „Michael Spyres & Lawrence Brownlee – Amici e Rivali kennt, der weiß, dass es sich dabei um ein Heimspiel des Tenors handelt. Rossini arbeitete wie Mozart Hand in Hand mit den Sängern, um die Grenzen der menschlichen Stimme zu erweitern und sogar zu überschreiten, meint Spyres. Als Beispiel nennt und singt er neben dem Figaro im „Barbiere di Siviglia“ vor allem die Rolle des Otello. Dieser „Otello“ veränderte den Lauf der Operngeschichte und mit ihrer dramatischen Wirkung entstand eine der stimmlich anspruchsvollsten Rollen. Wieder war es der Allrounder Andrea Nozzari, für den Rossini insgesamt neun Rollen schrieb. Der Stimmumfang seines Baritenors muss enorm gewesen sein und soll vom zweigestrichenen ,G‘ bis zum viergestrichenen ,d‘ gereicht haben.

 

Auch das komische Fach eignete sich besonders gut für allerlei stimmliche Sperenzchen. Adolphe Adams „Le Postillon de Lonjumeau“ ist so ein Beispiel. Die Arie ,Mes amis, écoutez l‘historie‘ wurde von Jean-Baptiste Chollet aus der Taufe gehoben, ein Sänger der als Bariton begann und als Startenor endete. 

 

Besonders interessant ist die Sicht von Spyres auf Wagners „Lohengrin“, dessen Gralserzähung „Aux bords lointains“ er in der original orchestrierten französischen Version vorträgt: „Nur wenige machen sich bewusst, dass die Blaupause von Wagners bahnbrechendem Komponieren für die Singstimme das Ergebnis des perfektionierten Baritenors war, der an der französischen Grand Opéra und der eher zentralisierten Revolutionsära geschult worden war.“ 

 

Natürlich darf auch „Les Contes d‘Hoffmann“ nicht fehlen. Offenbach konzipierte die Hauptrolle zunächst für Bariton. Die Akte eins und zwei existieren in zwei verschiedenen Versionen für Tenor und Bariton. Von Paris geht die baritonale Reise weiter nach Wien. Für viele überraschend wird sein, mit welchem Charme und einer völlig akzentfreien Aussprache Spyres die Daniloparadearie „Da geh ich zu Maxim“ aus Léhars „Die lustige Witwe“ schmachtet. 

 

Das letzte Stück der CD ist Wolfang Erich Korngolds „Die tote Stadt“ gewidmet. Pauls Arie „Glück, das mir verblieb“ kann trotz der unverschämt hohen Tessitura nicht vollkommener gesungen werden als es hier Spyres gelingt. Persönliche Parallelen sieht er zu Richard Schubert, der die Uraufführung sang und ebenfalls vom Bariton zum Tenor avancierte.  

 

Am Ende gibt uns der mutige Sänger noch einen klugen und einfachen Ratschlag, wie wir mit der „allgegenwärtigen und doch verborgenen Kunst des Baritenors“ umgehen sollen und zitiert dazu aus Orffs „Carmina Burana“ „a ramender ..statim vivus fierem per un baser“: Ich würde lebendig sogleich durch einen Kuss. Lassen wir uns mit diesem in jeder Hinsicht exemplarischen Album wachküssen aus dem Dornröschenschlaf festgezurrter Facheinteilungen. Die Wirklichkeit ist immer mehr, als das Lehrbuch es will. Natürlich könnte man sagen, dass dieser Zusammenstellung etwas von stimmartistischer Akrobatik anhaftet. Das Gesamtergebnis speist sich aber auch aus der Ernsthaftigkeit des Künstlers und der historisch abgesicherten Legitimität seines Tuns. Fazit: Volltreffer würde ich sagen.

 

Auf orchestralen Händen getragen wird Michael Spyres vom Orchestre Philharmonique de Strasbourg unter dem Chefdirigenten Marko Letonja und dem männlichen Teil des Chors der Opéra du Rhin.

 

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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