CD „BACH TO THE FUTURE“ – Olivier Latry auf der Großen Cavaillé-Coll-Orgel von Notre-Dame de Paris, La Dolce Volta
Eine der guten Nachrichten nach dem Brand der Kathedrale Notre-Dame in Paris war unter anderen, dass die Große Orgel das Feuer zwar staubbedeckt, aber ohne größeren Schaden überstanden hat. Die ‚kleinere‘ vor allem liturgisch genutzte Orgel der Kirche mit 2000 Pfeifen wurde bei dem folgenschweren Brand am Montag vor Ostern hingegen fast komplett zerstört. Die monumentale Hauptorgel von Cavaillé Coll hat ihren Platz unter der Westrosette und gilt mit ihren aktuell 115 Registern und ca. 8000 Pfeifen zu den klanglich aufregendsten Instrumenten der Welt. Nachdem sie während der Französischen Revolution in Mitleidenschaft gezogen wurde, restaurierte Aristide Cavaillé-Coll die Orgel der Notre-Dame im 19. Jahrhundert. Er war ein legendärer Orgelbaumeister und machte aus dieser sein Meisterstück. Sie wurde in der jetzigen Form 1868 eingeweiht.
Notre-Dame-Organist Olivier Latry (einer von vieren), der Solist der vorliegenden CD, hat laut einer Meldung der Sueddeutschen in Dresden – er ist aktuell zudem Palastorganist der Dresdner Philharmonie – bestätigt, dass es offenbar keine massiven Schäden gegeben habe. Latry musiziert seit 1985, da war er gerade einmal 23 Jahre alt, in der Notre-Dame.
Wer nun wissen will, die die großartige Orgel der Notre-Dame de Paris klingt, dem sei das vorliegende, im Jänner 2019 aufgenommene Album empfohlen. Olivier Latry stellt auf seiner ersten Platte für das Label „La Dolce Volta“ ein reines Bach-Programm vor. Aufgrund der spezifischen akustischen Bedingungen – in Notre-Dame beträgt die Nachhallzeit sieben Sekunden – hat Latry massivere, nicht in erster Linie hochpolyphone Werke des Barockmeisters gewählt. Latry sieht sich als Kammermusiker, der sich als oberste Regel beim Orgelspiel verordnet hat, dem Instrument zuzuhören. Und tatsächlich, die Musik blüht bei Latry in allen intensiven Farben der berühmten bunt-mittelalterlichen Glaskunst der Kathedrale auf, von kaum hörbar mystisch verhalten und weit herkommend bis majestätisch alle vorhandenen Register nutzend. Für Latry steht bei Bach das Transzendentale, das Zeitlose im Mittelpunkt, gleichsam die Idee einer permanenten Wiedergeburt. Dieser Optimismus überträgt sich auf sein Spiel, bei dem er nicht nur den Noten, sondern auch der jeweiligen Akustik und den Finessen des gespielten Instruments in allem Respekt begegnet.
Bei der Interpretation interessiert sich Latry u.a. für die Orchester-Transkriptionen von Leopold Stokowski schon deshalb, weil der englische Dirigent eine außerordentliche Phantasie besaß und sie den Organisten dazu zwingen, sich von der buchstäblichen Auslegung des Originaltextes zu lösen sowie das organische Potential des Instruments auszuschöpfen. Als Beispiele seien hier die Toccata und Fuge in d-Moll, BWV 565 oder die Fuge in g-Moll, BWV 578 genannt. Für die Fuge und Fantasie in g-Moll, BWV 542 hat sich Latry von einer Klavierbearbeitung von Franz Liszt inspirieren lassen. „Liszt war ein genialer Visionär, der das Expressive und Dramatische jedes Stücks sofort begriff. Bei seinen Bearbeitungen wusste er die Ressourcen des modernen Klaviers auszuschöpfen.“ In diesem Sinne will Latry nicht auf Ausdrucksmöglichkeiten der Orgel verzichten, nur weil es sie zu Bachs Zeiten nicht gab. So erinnert im Choral „In dir ist Freude“ BWV 615 eines der mit Pedal gespielten Themen an Glockenklänge. Deshalb nutzte der Solist das moderne Glockenspiel der Cavaillé-Coll Orgel. Nicht Authentizität, sondern Ehrlichkeit ist das Credo des Organisten.
Olivier Latry hat in einer am 17. April gesendeten ARTE-Dokumentation interessante Details über die musikalische Zweckbestimmung einer Orgel und die Arbeit des Titularorganisten an sich preisgegeben. Er will mit seinem Spiel an die künstlerische Tradition berühmter Titularorganisten von Louis Vierne bis Pierre Cochereau anknüpfen. „Zum Üben schließen sich die Organisten nachts in der Kathedrale ein. Eine Erfahrung der besonderen Art, denn das menschenleere Bauwerk bringt die Klangkraft und die Eleganz des Instruments besonders zur Geltung“….
Die Dokumentation von Isabelle Julien ist in der ARTE Mediathek unter dem Link www.arte.tv/de/videos/057383-000-A/die-orgel-von-notre-dame-de-paris/ bis zum 15. Juli abrufbar.
Fazit: Eine besondere CD nicht nur der Zeitumstände, sondern auch der künstlerischen Haltung und der interpretatorischen Kraft des Organisten wegen, die mit dem üblichen Mainstream nur sehr wenig zutun haben.
Dr. Ingobert Waltenberger