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CD: Auferstanden. Thierry Escaich Te Deum pour Notre-Dame Alpha Classics, Alpha 1207, 1 CD

02.11.2025 | cd

Auferstanden

Thierry Escaich: Te Deum pour Notre-Dame

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Ach, Notre-Dame – diese alte Dame, die 2019 fast in Flammen aufgegangen wäre und nun, frisch restauriert, wieder mit Orgelklängen und Chorjubel geflutet wird. Thierry Escaich, seit 2024 Co-Titularorganist der Kathedrale und ohnehin ein Mann, der sich in sakralen Hallen wie zu Hause fühlt, hat pünktlich zur Wiedereröffnung ein Te Deum pour Notre-Dame komponiert. Nicht irgendein frommes Pflichtstück, sondern ein 45-minütiges Oratorium für Kinderchor, zwei gemischte Chöre, Orchester und – zwischendurch – die große Orgel selbst, auf der Escaich seine berüchtigten Improvisationen einstreut. Uraufführung war am 12. Juni 2025, Aufnahmeort der gleiche ehrwürdige Bau, 180 Mitwirkende, Dirigent Alain Altinoglu. Die Presse jubelte, Le Figaro sprach gar vom „großen französischen Oratorium des 21. Jahrhunderts“. Nun liegt die Live-Mitschnitt-CD, erschienen bei Alpha Classics, vor.

Escaich nennt sein Werk eine „Reise von den zerstörerischen Flammen zum Feuer der Erlösung“. Vier Sätze, drei Orgel-Zwischenspiele, Textquellen von der Bibel über Victor Hugo bis Charles Péguy – das klingt nach Konzeptalbum mit Weihrauch. Und tatsächlich beginnt Nuit de feu mit einem Grummeln im Orchester, als hätte jemand die Unterwelt-Klimaanlage auf „Inferno“ gestellt. Tiefe Streicher pulsieren wie Herzschläge, ferne Chorstimmen tasten sich durch Rauchschwaden, Bläser fauchen, Percussion knistert. Man spürt die Hitze, riecht fast das verkohlte Eichenholz. Nur: Wer hier kuschelige Katastrophen-Romantik erwartet, wird enttäuscht. Escaich schreibt spröde, rhythmisch kapriziös, harmonisch oft schroff – das ist kein Carmina Burana für die ganze Familie.

Dann die erste Orgel-Improvisation (Verset I). Escaich setzt sich ans Pult, und plötzlich flimmert Notre-Dame wie ein Mosaik aus Licht und Klang. Register blitzen auf, Farben wogen durch den Raum, als wollte die Orgel die gotischen Fenster selbst zum Leuchten bringen. Fünf Minuten pure Magie – und ein Beweis, dass Escaich als Improvisateur mindestens so überzeugend ist wie als Komponist. Ähnlich meditativ das dritte Verset: sakrale Phrasen, nahezu statisch, ein Moment der Kontemplation, der einem fast die Zeit vergessen lässt. Dazwischen die Sätze: Anges de lumières mit dunklen Bläserakkorden und feinen Schlagzeugfarben, Le vaisseau marial, wo das Orchester zunächst lauert, bevor Holzbläser sich vorsichtig vortasten, und schließlich La flamme percera, das wieder fragend beginnt – wohin führt das alles? Escaich gibt keine einfachen Antworten. Stattdessen wilde Rhythmen, schroffe Kontraste, Momente, in denen man sich fragt, ob das noch Hymne oder schon Klang-Actionfilm ist.

Die Mitwirkenden werfen sich mit Verve ins Geschehen. Die Maîtrise Notre-Dame de Paris singt glockenhell, der NFM Choir aus Breslau und das hr-Sinfonieorchester (international: Frankfurt Radio Symphony Orchestra) musizieren mit jener Ausgewogenheit, die man von Altinoglu kennt – umsichtig, transparent. Alles klingt frisch, raumfüllend, die Akustik der Kathedrale ist präsent, aber nicht übertrieben hallig. Alpha hat die Live-Situation hervorragend eingefangen; man hört sogar das eine oder andere Husten aus dem Publikum – Authentizität, die man sonst teuer bezahlen muss.

Und doch: Dieses Te Deum umarmt den Hörer nicht. Es fordert, es reizt, es lässt einen mit offenen Fragen zurück. Zeitgenössische Musik ist eben meist Arbeit – hier weniger als anderswo, aber immer noch genug, um nicht nebenbei die Wäsche zu falten. Escaich bietet Impressionen statt Melodien, faszinierende Ruhepunkte statt Ohrwürmer. Wer Messiaen liebt, wird hier Anknüpfungspunkte finden; wer auf Dur-Dreiklänge und Choral-Cover hofft, sollte besser bei Duruflé bleiben.

Bleibt die historische Dimension. Ein Te Deum zur Wiedereröffnung von Notre-Dame, aufgenommen im selben Raum, mit dem frisch ernannten Organisten am Pult – das hat Symbolkraft. Und ja, es gibt Momente – etwa die marimba-geschwängerten Passagen oder die streichernden Herzschläge –, die einen tatsächlich packen. Ob das Werk jedoch Repertoire-Renner wird? Wohl kaum. Dazu ist es zu sperrig, zu wenig eingängig, zu sehr auf den einmaligen Anlass zugeschnitten.

Eine CD für jene, die Kathedralen nicht nur als Selfie-Hintergrund sehen, sondern als Klangräume ernst nehmen. Escaich liefert kein neues Requiem, sondern ein zeitgenössisches Fresko – rau, leuchtend, manchmal anstrengend und doch auch ein Erlebnis.

Dirk Schauß, im Oktober 2025

 

Thierry Escaich

Te Deum pour Notre-Dame

Alpha Classics, Alpha 1207, 1 CD

 

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