CD ANTONIO VIVALDI: Concerti per violino XI „Per Anna Maria“ – Fabio Biondi und Europa Galante; Vivaldi Edition Vol. 71
Für Anna Maria: Sie war die berühmteste Instrumentalistin des venezianischen Ospedale della Pietà, an dem Vivaldi vierzig Jahre lang unterrichtete. Die europaweit bejubelte Anna Maria war eine virtuose Geigerin, reüssierte aber auch auf der Viola d’amore oder der Theorbe, sie glänzte am Cembalo, brillierte mit dem Cello, auf der Laute oder Mandoline. Der Prete Rosso widmete ihr zwei Dutzend Violinkonzerte, darunter das Concerto per la solennità di S. Lorenzo oder die beiden Konzerte „in due cori (d.h. für zwei Orchester) por la santissima Assontione di Maria Vergine“.
Auf dem vorliegenden Album, dem 71-sten der Vivaldi-Edition, stellen der Geiger Fabio Biondi und Europa Galante sechs Konzerte (RV 179a, 207, 229, 260, 261 und 363) des elften Bands der Violinkonzerte vor, die zwischen 1710 und dem Ende der 1720er Jahre entstanden sind. Wie alle Aufnahmen der Edition, stützt sich auch diese Ausgabe hauptsächlich auf die in der Nationalbibliothek Turin befindliche, ehemals persönliche Handschriftensammlung des Komponisten. Die Noten zu den Konzerten RV 260 und RV 363 „I corneto da posta“ mit den nachgeahmten Posthorneffekten werden in Dresden aufbewahrt. Auf dem Album wird als letzter Track eine alternative Version des Largo aus dem Konzert RV 179a, vorgestellt, die wahrscheinlich von Anna Maria handschriftlich mit üppigen Verzierungen versehen wurde sowie eine Kadenz enthält, die eine andere Schülerin (Chiara, die ihr als führende Geigerin des Orchesters der Pietà nachfolgte?) hinzugefügt hat.
In Turin gilt es, knapp 450 Werke, Konzerte, Opern, geistliche und säkulare Vokalmusik, zu sichten, zu restaurieren, zu bearbeiten und schließlich in Aufführungen und Studioaufnahmen zum Leben zu erwecken. Gestartet zu Beginn des Jahrhunderts hat die vom italienischen Musikologen Alberto Basso initiierte Edition zum ehrgeizigen Ziel, nicht weniger als alle Turiner Partituren auf Schallplatte zu verewigen. Im Istituto per I Beni Musicali in Piemonte werden die Manuskripte in spielbare Noten verwandelt. Bislang wurden über 100 Stunden an Musik aufgenommen, d.h. zwei Drittel des Projekts sind bereits im „Kasten“.
Die Befassung nicht zuletzt mit den unbekannteren Werken erlaubt es vor allem, heraus aus der Vorurteilsschleife, dass Vivaldi hundertfach immer die „gleiche“ Musik geschrieben hätte, zu treten. Natürlich atmet Vivaldis Musik eine spezifische Atmosphäre und ist mit einem hohen Wiedererkennungssignum ausgestattet. Die Ausdruckspalette rangiert von den beliebten, lebensfroh tänzerisch beschwingten Rhythmen zu einer lyrisch sanglichen Virtuosität bis zu melancholisch seltsam fahlen Passagen.
Mit Fabio Biondi als einem der erfahrensten Vivaldi-Geiger können es heute in Bezug auf italienisches Temperament, rauschhafte Klangfarben und nicht weniger wichtig, fragil vergängliche Stimmungen, nur wenige aufnehmen. Sein Ensemble Europa Galante ist ihm auf dieser Erkundungsreise ein bestens eingespielter, alle Extravaganz der Musik galant zum Blühen bringender Gefährte. Freudenvoll!
Dr. Ingobert Waltenberger