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CD ANTONIO VIVALDI „ARGIPPO“ Europa Galante unter Fabio Biondi; Vivaldi Edition vol. 64 opere teatrali; Naive

Vivaldis indisches Pasticcio aus Chittagong

21.11.2020 | cd

CD ANTONIO VIVALDI „ARGIPPO“ Europa Galante unter Fabio Biondi; Vivaldi Edition vol. 64 opere teatrali; Naive

 

Vivaldis indisches Pasticcio aus Chittagong

 

Die Aufnahmemaschinerie der großartigen Vivaldi-Edition läuft offenbar genauso geschmiert wir die Traumfabrik Vivaldi im frühen 18. Jahrhundert. War es vor einigen Wochen das Pasticcio „Il Tamerlano“ (mit Ottavio Dantone und der Accademia Bizantina), so präsentiert uns Fabio Biondi mit seinem Orchester Europa Galante diesmals ebenfalls ein Pasticcio. Bei „Argippo“ handelt es sich um keine Weltersteinspielung. Da hatte das Label Dynamik mit einer Aufnahme aus dem Jahr 2009 mit dem Hof Musici Ensemble unter dem Prager Dirigenten Ondrej Macek die Nase vorne. Da die CD längst vergriffen ist und die Musik dramatischer durchwachsen ist als viele andere Werke Vivaldis, wird die energisch und ungestüm musizierte und erstklassig gesungene Neuaufnahme natürlich willkommen geheißen. 

 

Die Aufnahme markiert die neunzehnte Oper der Sammlung. Zwei fehlen also noch auf die 21 existierenden Manuskripte.

 

Der Librettist Sebastiano Biancardi war ein Schuft größeren Kalibers. Nachdem er als Schatzmeister der Bruderschaft Santissima Annunziata in Neapel jede Menge an Geld unterschlug, floh er nach Rom und dann in den Norden, wo er sich unter dem Namen Domenico Lalli in Venedig niederließ. Dort schrieb bzw. bearbeitete er Dutzende Opernlibretti. So verfasste er 1713 das Stück „Gran Mogul“, das später unter dem Titel „Argippo“ von etlichen Komponisten vertont wurde. Historischer Hintergrund war der Achte Osmanisch-Venezianische Krieg von 1714–1718, wo die italienische Handelsstadt als Ausgleich intensive kommerzielle Beziehungen zu Indien pflegte. Als romantische Figur des Subkontinents, der die Fantasie und Werke zahlreicher europäischer Künstler anregte, galt damals der Großmogul Aurangzeb, der 1707 nach einem halben Jahrhundert Herrschaft verstarb. Auch Vivaldi war von dieser „exotisch indischen Mode“ erfasst und schrieb das Violinkonzert „Il Grosso Mogul“ RV 208 als auch ein Flötenkonzert „Il Gran Mogul“ RV 431a, Teil eines von vier Konzerten, die Frankreich, England, Spanien und Indien gewidmet waren. In der Musik dieser Konzerte als auch in der Oper „Argippo“ ist allerdings kein klanglicher Bezug zu Indien zu erkennen.

 

Die ursprüngliche Oper „Argippo“ Vivaldis, 1730 in Wien im Theater am Kärntner Tor uraufgeführt, ist verloren gegangen. Dagegen wurde in Darmstadt 2011 eine anonyme unbetitelte Abschrift einer Oper gefunden, basierend auf einer von Vivaldi für Prag geschriebenen Fassung von “Argippo”. Dieses Pasticcio, RV Anh. 137, ist es, das wir auf der vorliegenden Neueinspielung hören. Bis zu zehn Arien, also die Hälfte der Arien der gesamten Oper, stammen höchstwahrscheinlich von anderen Komponisten, wie Nicola Porpora, Battista Pescetti, Leonardo Vinci, Johann Adolf Hasse und Antonio Galeazzi. Dieses Pasticcio ist wie so viele andere in barocken Zeiten schnell zusammen geschusterte Musiktheaterwerke dem ausgeprägten Geschäftssinn von Komponisten und „Managern“ zu verdanken. in diesem Fall hat der venezianische Impresario Antonio Peruzzi das Manuskript am Hof Hessen-Darmstadt erstanden. 

 

Die Aufnahme basiert auf einer kritischen Edition von Bernardo Ticci aus dem Jahr 2019. Argippo (Emöke Baráth) wird von einem Sopran mit dem Register eines Kastraten, Osira (Marie Lys) und Silvero (Marianna Pizzolato) von Sopranen, Zanaida (Delphine Galou) von einem Alt und Tisifaro (Luigi De Donato) von einem Bass gesungen. Der Vivaldi Spezialist Reinhard Strom vermutet, die Oper rund um verwirrende Liebesgeschichten von Zanaide, der Tochter des Großmoguls Tisifaro, sei zu Beginn des Jahres 1732 kompiliert worden. 

 

Die Handlung ist einigermaßen hanebüchen, der gepfefferte Familientrash basiert auf einer nächtlichen Verführung der schönen Zanaide durch den Neffen des Großmoguls Silvero. Der hat es völlig surrealerweise geschafft, seine Großnichte Zanaide während des Beischlafs glauben zu machen, er sei Argippo, König von Cingone (Chittagong). Die Nacht muss für Zyanide ziemlich beeindruckend verlaufen sein, weil die so Beglückte die Zeit danach in tiefe Traurigkeit und Verwirrung stürzte. Klar, Argippo tauchte nicht wieder auf. Er konnte das auch nicht, weil der König wiederum glücklich mit Osira verheiratet war und von dem ganzen qui pro quo nichts ahnen konnte, als er vom Großmogul zu einem offiziellen Staatsbesuch eingeladen wird. Dort angekommen, geht das übliche Hin und Her um verletzte Liebe, Missverständnisse, erotische Verwirrungen etc. los (z.B.: Osira soll aus Rache für die angebliche Missetat ihres Gatten sterben, wird aber in letzter Minute durch das Eingeständnis Silveros gerettet) mit allen guten Gelegenheiten für Arien zwischen Zärtlichkeit, Angst, Wut und Wahnsinn. Zum Schluss heiratet Zanaide halt den Bettschwindler und Großneffen Silvero. Irgend eine Qualität wird der Lügner also doch gehabt haben….

 

Die Musik ist allerdings von einem anderen Zuschnitt wie diese konstruierte, ziemlich an den Haaren oder anderen Körperteilen herbeigezogene Handlung. Die im Vergleich zu anderen Vivaldi-Opern abwechslungsreicheren Arien verdanken wir gerade den hochqualitativen „Arieneinlagen“ anderer Vivaldi-Kollegen, die ja damals, wie die Namensliste beweist, ebenfalls zu den besten ihrer Zunft gehörten. Urheberrecht gab es zu Barockzeiten nicht, also erfreuen wir uns der Musik von Vivaldi & Co mit einer Sängerriege, die allesamt mit schlanken beweglichen Stimmen und beeindruckender Verve an ihre virtuosen Aufgaben herangehen. Wobei die Mezzos bzw. Altos – die Bemerkung sei erlaubt –   nicht grade durch pastose satte tiefe Töne auffallen, sondern eher mit kompakt fokussierten Mittellagen und eleganten Höhen reüssieren. 

 

Fabio Biondi hält das 1990 von ihm gegründete Originalklangorchester Europa Galante zu feurig dramatischem Spiel an. Hören Sie die Oper am besten, als ob es sich um ein barockes italienisches Arienalbum handelt und zwei glücklichen Opern-Stunden steht nichts mehr im Wege.

 

Dr. Ingobert Waltenberger

 

 

 

 

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