CD ANTON BRUCKNER SYMPHONIE Nr. 1, Wiener Fassung 1891, RÉMY BALLOT dirigiert das Altomonte Orchester St. Florian; Gramola
Was für ein „Teufelsgeiger“, was für Orchester- und Kammermusiker, was für ein Dirigent! Die Rede ist vom Franzosen Rémy Ballot, der sich nicht zuletzt als Erzieher von Orchestern in Albanien, Kroatien und Israel und als Co-Gründer des Filasteen Young Musicians Orchestra der Barenboim-Said Foundation in Ramallah einen Namen gemacht hat.
Nach seinen Studien bei Gerard Poulet am Pariser Konservatorium und bei Sergiu Celibidache machte sich Ballot von Paris nach Wien auf, um daselbst als Gastgeiger der Wiener Philharmoniker, Mitbegründer des Klangkollektivs Wien (gemeinsam mit dem Klarinettisten der Wiener Philharmoniker Norbert Täubl), prägender Dirigent der Sankt Florianer Brucknertage und Primarius des Altomonte Ensembles das österreichische Musikleben gehörig aufzumischen.
Soeben ist bei Gramola die Aufnahme der ersten Symphonie in c-Moll WAB 101, Wiener Fassung 1890, von Anton Bruckner erschienen, die live am 20. August 2022 in der Stiftsbasilika St. Florian entstanden ist. Es handelt sich um den vorletzten Stein einer noch für dieses Jahr rechtzeitig zum 200. Geburtstag des Komponisten geplanten Gesamtausgabe aller Bruckner Symphonien, des ersten Zyklus, der durch einen einzigen Dirigenten ausschließlich im Augustiner Chorherrenstift in St. Florian live musiziert wurde. Im August 2023 folgte als Abschluss des dank der Initiative von Univ. Prof. Dr. Klaus Laczika (Gründer der St. Florianer Brucknertage), und Richard Winter (Gramola) erst möglichen Projekts die Erstaufführung der „Annullierten Symphonie WAB 100“ in der neuen kritischen Ausgabe des Musikwissenschaftlichen Verlages.
Die erste Symphonie, von Bruckner selbst 1868 im Linzer Redoutensaal aus der Taufe gehoben, 1890/91 nochmals perfektioniert (insbesondere die Coda des 4. Satzes), hat Bruckner der Universität Wien als Dank für die Ehrendoktoratsauszeichnung in Philosophie gewidmet. Es ist ein für die Entstehungszeit ungemein modernes, quicklebendiges, energisches Werk, das als vom Komponisten liebevoll-ironisch so getauftes „Beserl“ in die Musikgeschichte einging. In dieser erstaunlich genialen Symphonie ist alles da, was die Originalität und einzigartige Stellung von Bruckner unter den Symphonikern des 19. Jahrhunderts ausmacht. Ob die Kennung in der Spiritualität der katholischen Kirchenmusik, die Weiterentwicklung und höchstpersönliche Aneignung der Tradition des barocken Kontrapunkts, das himmelfliegende heroische Pathos infiltriert mit den radikalen Harmonien der neudeutschen Schule, die zauberische Metamorphose der Themen, die gewaltigen Steigerungen, Bruckners Erste Symphonie in c-Moll gleißt forsch-verführerisch und wetterleuchtet wie kaum ein anderes Werk des Meisters aus Ansfelden.
Rémy Ballot weiß all dies mit seiner Interpretation atemberaubend in Szene zu setzen. Die kombinatorische Trias von Ort, Komponist und Werk tut im Einklang mit den vom Dirigenten umsichtig berücksichtigten akustischen Gegebenheiten der Stiftsbasilika mit ihren bis zu zehn Sekunden Nachhallzeit das ihrige dazu. Obwohl mit insgesamt 63,1 Minuten Spielzeit von den Tempi her erheblich langsamer als etwa Herbert von Karajan (Studioaufnahme mit den Berliner Philharmonikern: 50,04 Minuten) oder Christian Thielemann (Wiener Philharmoniker: 52,24 Minuten), birst die Interpretation Ballots vor glühender Emphase, vermag Ballot das Scherzo hochdramatisch zu schürzen und im Finale behutsam sich entwickelnde, ungeheure Spannungsbögen à la Celibidache zu zimmern. Das Altomonte Orchester, das sich aus lokalen und weiteren begeisterten österreichischen Orchestermusikern rekrutiert, begeistert mit schillernden Klangfarben und prägnanter Rhythmik. Insbesondere Holz und Blech, aber auch die expressiven Streicher tragen zu einem unverwechselbaren Klang bei, der nicht nur die Virtuosität und allen instrumentalen Glanz der Komposition trefflich abbildet, sondern auch – dem genius loci entsprechend – Raum für metaphysische Tiefe und spirituelles Eintauchen lässt.
Nach der Veröffentlichung des Gesamtzyklus mit den Wiener Philharmonikern unter Christian Thielemann wird mit dieser Bruckner-Live-Gesamtaufnahme aus St. Florian (ab 17.11. wird es so weit sein) mit dem fabulösen und merklich von Celibidache geschulten Rémy Ballot als musikalischem Leiter ein weiterer solitärer Meilenstein einer authentischen Bruckner Rezeption erhältlich sein. Anm.: Die Einspielungen der sechsten und achten Symphonie entstanden unter Mitwirkung des oberösterreichischen Jugendsinfonieorchesters.
Dr. Ingobert Waltenberger