Bruckners Neunte: Ein atmendes Monument im Dialog mit dem Göttlichen
Anton Bruckners neunte Sinfonie ist ein Werk der Extreme – zwischen erhabener Spiritualität und abgründiger Verzweiflung, zwischen monumentaler Klanggewalt und innigster Selbstbefragung. Es ist sein letztes, unvollendetes Werk: eine Partitur, die vielfach als musikalisches Vermächtnis gelesen wird, ja, als ein Requiem für sich selbst.
Die vorliegende Einspielung unter der Leitung von Karl-Heinz Steffens mit dem Norrköping Symphony Orchestra nähert sich diesem komplexen Werk nicht mit dramatischem Überdruck, sondern mit ruhiger Beharrlichkeit und kontemplativer Tiefe. Bruckner erscheint hier nicht als donnerndes Klangmonument, sondern als lebendiges, atmendes Wesen. Die Tempi sind weit gefasst, nie schleppend, die Phrasierung sorgfältig ausgehört – und gerade darin liegt die besondere Stärke dieser Interpretation.
Das 1912 gegründete Norrköping Symphony Orchestra zählt zu den profiliertesten Klangkörpern Skandinaviens. International bekannt durch seine Aufnahmen nordischer Komponisten wie Sibelius oder Stenhammar, überzeugt es auch bei Anton Bruckner mit einer fein abgestimmten Klangkultur: warme, dabei klar strukturierte Streicher, Bläser mit sonorer, aber nie aufdringlicher Präsenz – insbesondere Hörner und Trompeten –, und Pauken, die ungewöhnlich deutlich artikuliert und klanglich exponiert in Erscheinung treten.
Aufgenommen in der akustisch hervorragend ausbalancierten Louis de Geer Concert Hall entfaltet diese Einspielung eine räumliche Weite, die Bruckners vielschichtige Polyphonie in all ihrer inneren Bewegung erfahrbar macht. Der Klang bleibt durchhörbar, breit, aber nie diffus – kraftvoll, doch nicht brutal. Steffens formt mit dem Orchester eine Interpretation, in der sich die Stimmen wie in einem musikalischen Miteinander begegnen: ein fließender Dialog statt bloßer Aufschichtung.
Der erste Satz beginnt nicht mit einem eruptiven Ausbruch, sondern mit einem schwebenden Aufbau. Das „Misterioso“ ist hier Programm: Die Musik tastet sich suchend voran, die Bläser setzen ein, als wollten sie nicht verkünden, sondern fragen. Und das Orchester lässt diesen Moment atmen – als würde die Musik selbst nach Antworten suchen. Steffens verzichtet auf plakative Zuspitzungen; seine Lesart wächst organisch, wie eine gotische Kathedrale, die sich Stein um Stein emporhebt.
Besonders eindrücklich gelingen die lyrischen Episoden: Flöten und Oboen intonieren mit chorischer Reinheit, während die Streicher nicht mit üppigem Schmelz antworten, sondern mit zarter, verhalten schmerzlicher Klangrede – ein gebremster Gesang, der sich erst allmählich zu einem intensiven Kantabile aufschwingt. Selbst die großen Tutti-Passagen geraten nicht zum klanglichen Exzess, sondern erscheinen als natürliche Kulminationen eines langen inneren Prozesses. Steffens differenziert feinfühlig in der Dynamik, entwickelt Spannungsbögen aus der Struktur selbst heraus.
Markant ist die rhythmische Flexibilität: Fermaten werden gedehnt, Übergänge leicht beschleunigt – ohne den architektonischen Zusammenhang zu verlieren. Die Musik bleibt atmend, nie statisch. Besonders beeindruckend: jener Moment kurz vor der Coda, in dem die Bewegung innehält, bevor das Hauptthema erneut aufstrahlt – wie Licht, das sich seinen Weg durch das Dunkel bahnt. Steffens zieht das Tempo an, steigert das Finale des Satzes mit Nachdruck, ohne zu forcieren. Ein Abschluss von kraftvoller Konzentration.
Nach der Weite des Kopfsatzes erscheint das Scherzo wie ein jähes Umschlagen ins Groteske. Die Pauken hämmern nicht nur – sie brennen sich ein, als zögen sie das Orchester in ein unentrinnbares
Ritual. Die Streicher agieren mit messerscharfer Präzision, als sei der ganze Satz eine böse Vision. Doch Steffens wahrt auch hier die Kontrolle: Die Wildheit bleibt kalkuliert, die rhythmischen Verschiebungen wirken nicht chaotisch, sondern wie gezielt gesetzte Störfeuer.
Das Trio – bei Bruckner meist ein Moment der Auflockerung – erscheint hier wie eine schattenhafte Erinnerung an Heiterkeit, kaum mehr als ein flüchtiger Gedanke. Danach kehrt das Hauptthema umso unbarmherziger zurück: eine bedrängende Wiederholung, die kaum mehr Ausweg lässt.
Das Adagio ist das emotionale Zentrum der Sinfonie – und vielleicht der erschütterndste Moment in Bruckners gesamtem Œuvre. Hier verzichtet er nahezu vollständig auf äußere Effekte; es herrscht eine liturgische Innigkeit. Steffens geht diesen Weg mit großer Sensibilität: Er dämpft zu Beginn bewusst die Dynamik, lässt die Musik aus der Stille heraus erwachsen. Die Streicher singen in langen, melancholischen Linien, die Holzbläser klingen wie ferne Stimmen aus einem anderen Raum.
Die Tempi sind gedehnt, aber nie spannungslos – jede Phrase wirkt wie ein letzter Versuch, etwas Unsagbares auszudrücken. Besonders bewegend: die chromatischen Abstiege der Celli und Bratschen, die wie ein stummes Klagen unter der Oberfläche der Musik brodeln. Und schließlich die große, dissonante Kulmination – jener Moment des Stillstands, der sich weigert, in konventionelle Auflösung zu münden. Steffens gestaltet ihn als radikalen Ausdruck der Leere – ein ergreifender Moment, in dem Zeit, Klang und Bedeutung für einen Augenblick stillzustehen scheinen.
Diese Aufnahme der neunten Sinfonie mit dem Norrköping Symphony Orchestra unter Karl-Heinz Steffens ist keine dramatische Pose, kein auf Effekt gebürstetes Spektakel. Sie ist ein Nachdenken in Klang – eine demütige Annäherung an Bruckners letztes Werk. Die Balance zwischen struktureller Klarheit und emotionaler Tiefe, zwischen Kraft und Zartheit ist beeindruckend.
Wer die Neunte als machtvolles Klangmonument sucht, wird sich womöglich anderswo eher zu Hause fühlen. Doch wer bereit ist, in Bruckners Musik eine spirituelle Reise zu sehen – ein Ringen um Transzendenz, das nie zur endgültigen Lösung kommt – der wird hier eine Lesart entdecken, die selten so nahe an das innerste Wesen dieses Werks heranreicht.
Es ist ein Bruckner, der atmet – und der den Hörer still werden lässt.
Dirk Schauß, im April 2025
Anton Bruckner
Sinfonie Nr. 9 d-moll WAB 109
Norrköping Symphony Orchestra
Karl-Heinz Steffens, musikalische Leitung
Orchid Classics, ORC100371