CD ANDRIS NELSONS dirigiert BRUCKNER und WAGNER, Deutsche Grammophon
Das Gewandhausorchester Leipzig unter der musikalischen Leitung des aktuellen lettischen Gewandhauskapellmeisters Andris Nelsons ist gerade dabei, alle Symphonien von Anton Bruckner einzuspielen. Dabei koppelt Nelsons eine Symphonie immer mit einer Orchesterkomposition des 1813 in Leipzig geborenen und von Bruckner so überaus verehrten Richard Wagner. In den drei ersten Folgen waren dies die dritte Symphonie mit der Tannhäuser Ouvertüre, die vierte Symphonie mit dem Vorspiel zu Lohengrin sowie die siebente Symphonie mit Siegfrieds Trauermarsch aus der Götterdämmerung. Das älteste bürgerliche Konzertorchester der Welt hatte 1884 die siebente Symphonie des großen Ansfeldner Symphonikers uraufgeführt und unter dem Dirigat von Arthur Nikisch 1919/20 den ersten kompletten Bruckner-Zyklus weltweit angeboten.
In der aktuellen Neuerscheinung (erstmals eine Doppel-CD), live im Dezember 2018 im Gewandhaus Leipzig mitgeschnitten, werden die sechste Symphonie mit dem Siegfried-Idyll und die neunte Symphonie mit dem Vorspiel zum ersten Akt Parsifal vorgestellt. Das Gewandhausorchester Leipzig kommt meinem ganz persönlichen Klangideal bei Richard Wagner am nächsten. Ich unternehme keine Opernreisen mehr, außer zu Wagner-Aufführungen nach Leipzig, weil der unverwechselbare Klang des Leipziger Meisterorchesters mich am ehesten an meine ersten großartigen Bayreuth-Erfahrungen in den siebziger Jahren mit Pierre Boulez (Chereau-Ring) erinnert. Der sehnige helle Klang (nein, nicht so viel Seide und Samt wie bei den Wiener Philharmonikern), die nicht allzu romantischen, dafür umso draufgängerischen Streicher, das markante goldschimmernde Blech und das volle sanfte Holz vereinen Transparenz mit sauber umrissenen motivischen Details, Wohlklang mit Inhalt. Die unglaubliche Spannungsdichte, der „Sehnsuchts-Drive“, das Ziehen und Wollen, der schmerzliche Aufschrei, der rationalisierte Rausch der Musik, die gewaltigen Klangentladungen und zartesten Piani, all das kommt auch der Interpretation der Bruckner Symphonien im höchsten Maße zugute.
Andris Nelsons tritt bei Bruckner in die mächtigen Fußstapfen von Masur und Blomstedt. Er übertrifft beide aber an dynamischer Schärfe, hochemotionaler Versenkung und in Anbetracht der durchwegs moderaten Tempi am Gänsehaut-Gefühl des unendlichen und unbeirrbaren Fließens. Keine brutalen Zäsuren schneiden die musikalische Linie ab. Es sind trotz aller Leidenschaften überlegte Interpretationen, aber nicht kalkuliert und noch weniger effektgesteuert. Kosmisch formvollendet, besonders die Torso gebliebene Neunte hat es in ihrer visionären erlösungsfreien Archaik in sich. Selbst Karajan applaudiert wohlwollend von seinem Platz an der Rechten Gottes, natürlich auch für die Wagner-Ausschnitte.
Anm.: Parallel zum Bruckner-Zyklus entsteht unter der Leitung Andris Nelsons die erste Shostakovich Symphonien-Gesamtaufnahme mit dem Boston Symphony Orchestra für das Gelblabel.
Dr. Ingobert Waltenberger