CD ANDRÉ GRÉTRY: RAOUL BARBE BLEUE – Opéra comique en trois actes et en prose, Weltersteinspielung, aparte
André-Ernest-Modeste Grétry, prononcierter Lieblingskomponist von Königin Marie-Antoinette, war in seinen vielfältigen musikalischen Ausdrucksmitteln Vorläufer von Gluck. Meister der Opéra comique, jenen volkstümlichen aus dem Genre der Vaudeville und Opernparodien hervorgegangenen Stücken mit gesprochenen Texten und gesungenen Nummern, schrieb er im Morgengrauen der Französischen Revolution, eine schräge Opernfarce über Blaubart. Michel-Jean Sedaine, ein überaus fruchtbarer Lieferant von Libretti zu musikalischen Komödien in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, hat aus der berühmten Geschichte eines sehr reichen Adeligen, der die unangenehme Gewohnheit hat, seinen Ehefrauen die Gurgel durchzuschneiden, ein überaus bizarr brutales Bühnenstück geschaffen. Dieser dreiaktige „Raoul Barbe Bleue“ war überaus erfolgreich – nicht nur in Paris, wo es bis 1818 188 Aufführungen gab – sondern auch in Europa und besonders in Wien, wo sich die Parodie bis 1840 auf den Spielplänen hielt. Die in Dresden inszenierte Oper soll auch beim fünfjährigen Richard Wagner einen starken und bleibenden Eindruck hinterlassen haben, wie er in seinen Memoiren erzählt. Jacques Offenbach ließ sich davon zu seinem Operettenhit „Barbe Bleue“ inspirieren.
Der Handlungsrahmen der vorliegenden Version wurde von Charles Perraults Märchen vom Ritter Blaubart aus dem Jahr 1695 inspiriert, aber auch von mittelalterlichen Romanen. Er ist angereichert durch die Liebesgeschichte von Vergy zu Isaure. Die beiden wollen zueinander, stammen aber aus verarmten Adelsfamilien. Also stimmt sie ,vernünftigerweise‘ zu, dem reichen, aber furchteinflößenden Raoul de Carmatans vorgestellt zu werden. Auch Vergy fügt sich ins Unvermeidliche und das Unheil nimmt seinen Lauf. Isaure entdeckt im zweiten Akt die Leichen ihrer Vorgängerinnen. Für den Ungehorsam will der rasende Raoul Isaure sofort abmurksen, wird aber bevor er zur Tat schreiten kann, selber von einem seiner früheren Schwiegerväter auf offener Bühne nach einem kurzen Duell in einem Akt individueller Rache erschlagen. Natürlich war das Stück auch wegen der beißenden Kritik am Adel und der Drastik des Humors beliebt. Die Zensur hatte offenbar kein Problem damit, dass der Schlusschor über das Ende des fürchterlichen, blaublütigen Tyranns, des abscheulichen Monsters jubiliert.
Die Musik, ganz klassisch in der Anlage, ist dem Sujet nach von mysteriöser Schönheit und düster wild gestrickt. Anklänge an die Opera séria finden sich, die sofort in hüpfende komplexe Rhythmen umschlagen Nicht zuletzt die detaillierten Regieangaben werden lautmalerisch genutzt. So hören wir eine Staubwolke aufsteigen, Hufe galoppieren und Türen schlagen, was alles den herannahenden Rächer mit seinem Pferd in einem symphonischen Zwischenspiel ankündigen soll. Mittel musikalischer „Suspense“, wie sie in jedem Krimi heute vorkommen.
Die Aufnahme dieser auch stilistisch einzigartigen Opéra comique aus dem Jahr 1789 wurde in Selbu Norwegen im November 2018 nach einer Reihe von Aufführungen im Trøndelag Teater im Rahmen des Barockfestivals Trondheim realisiert. Das Orkester Nord unter der musikalischen Leitung des für seine Neugier und Pioniertätigkeit bekannten Martin Wåhlberg sind eloquente Anwälte der reizvollen Partitur. Schwarzer Humor und kultivierter, historisch informierter Orchesterklang prallen nicht blutrünstig aufeinander wie die Protagonisten der Oper, sondern sorgen für heitere 90 Minuten bester Unterhaltung. Dirigent Wåhlberg arbeitet die Drastik des Stücks beginnend mit der rasanten Ouvertüre mit großer Verve, Temperament und ausdrucksmächtig heraus. Ob Marsch, sentimentale Arietten oder Ensembles, dem Drive und der eigenartigen Faszination der Musik kann man sich kaum entziehen.
Das Sängerensemble glänzt weniger durch „schöne“ Stimmen, sondern stellt eine spielfreudige Truppe dar, die ideal diese reizvolle Oper mit schaurig-glutvoller komödiantischer Lust bedient. Am besten gefällt Matthieu Lécroart in der Baritonrolle des Raoul, Chantal Santon-Jeffery gibt vibratoreiche die arme Adelige Isaure, ihrem geliebten Vergy leiht der spitze Charaktertenor Francois Rougier Stimme und Kontur. In kleineren Rollen ergänzen der argentinische Tenor Manuel Núñez Camelino (Osman), Eugénie Lefebvre als Hirtin Jeanne, Enguerrand de Hys (Le Vicomte de Carabi), Jérôme Boutillier (Le Marquis de Carabas) und Marine Fafdal-Franc (Jacques).
Sehr empfehlenswert!
Dr. Ingobert Waltenberger