CD ALEXANDER ZEMLINSKY „LYRISCHE SYMPHONIE“ Op. 18 – mit Karan Armstrong und Roland Hermann, FRANZ SCHREKER „Vorspiel zu einem Drama“ – MICHAEL GIELEN dirigiert das ORF Vienna Radio Symphony Orchestra; ORFEO
Live Aufnahmen aus dem Wiener Musikverein 27.1.1989 bzw. dem Wiener Konzerthaus 31.8.1993
1922 in Prag entstanden – Zemlinsky war damals Direktor am Neuen Deutschen Theater – ist die auf Texte des bengalischen Poeten Rabindranath Tagore verfasste „Lyrische Symphonie“ für Sopran, Bariton und Orchester in der landläufigen Rezeption immer der kleine Bruder von Mahlers „Lied von der Erde“ geblieben. Sieben Gedichte aus der Liebeslieder Sammlung „Der Gärtner“ hat Zemlinsky zu einem bewegend dialogisierenden, tragisch verklärten Orchesterlied-Zyklus montiert. Im Kern geht es darum, dass Mann und Frau nicht zueinander finden. Inwieweit hier eine gehörige Portion autobiographisches Erleben des in Liebesdingen so unglücklichen Tonsetzers mit eine Rolle gespielt hat, darf sich jede/r selbst ausmalen.
Wesentlich orchesterbetonter, durchgängiger, expressiver und klanglich avantgardistischer als Mahlers „Lied von der Erde“, markiert die „Lyrische Symphonie“ nichts weniger als die ideenvolle und musikhandwerklich beeindruckende Sublimierung von (unerreichbarer) Liebe durch Kunst. Passend dazu heißt es auch im dritten Gesang „Habe dich eingesponnen, Geliebte, in das Netz meiner Musik“.
Es gibt einige hervorragende Aufnahmen der „Lyrischen Symphonie“, etwa dirigiert von Maazel, Sinopoli oder Eschenbach. Auch von Michael Gielen gab es eine Aufnahme aus dem Jahr 1995 mit dem Orchester des SWR, kombiniert mit Alban Berg „Lyrischer Suite“, damals erschienen bei Arte Nova. Wie so vieles, ist diese Aufnahme nicht mehr verfügbar.
Der jetzt erschienene Live-Mitschnitt mit dem ORF Orchester schließt somit eine schmerzliche Kataloglücke. Er lebt von der großartigen musikalischen Leitung Michael Gielens. Die oft geäußerten Meinungen über seine musikalische Annäherung an Partituren als analytisch und kühl sind viel zu kurz gegriffen. Gielen legt zwar Wert auf die optimale Durchhörbarkeit der komplexen Strukturen etwa der „Lyrischen Symphonie“. Das heißt, wo andere einen romantisierenden Klangbrei servieren, klingt Gielens Deutung stets transparent und spannungsgeladen. Seine Stärke liegt gerade bei der Umsetzung spätromantischer Werke in der Ausrichtung auf das Moderne, Zukunftsweisende nicht nur der Musik, sondern vor allem in Symbiose zum jeweiligen Inhalt gedacht, der ja oft nichts anderes als eine Spiegelung der Freuden, Sorgen und Nöte des modernen säkularen Menschen darstellt. So werden Sie kaum eine Interpretation der „Lyrischen Symphonie“ finden, in der das fiebrig-unruhige, das existenzielle Grummeln und sich Fügen ins Unvermeidliche so stringent und erschütternd zu Ton werden wie bei Gielen.
Leider hatte er (bzw. die Veranstalter) bei der Wahl der Solisten eine weniger zielsichere Hand. Die kürzlich verstorbene Karen Armstrong war eine zwingende Bühnenerscheinung, der die Charakterisierung schillernder Opernfiguren überzeugend gelang. Niemand wird jedoch ihrem vibratoreichen, dramatischen Sopran mit limitierter, bisweilen scharfer Höhe eine ideale Eignung für die Platte attestieren. Daher ist dieses Tondokument zwar eine Erinnerung an die Ausdruckskraft und expressive Intensität der Künstlerin, mit anderen auf Tonträgern verewigten Sängerinnen der Sopransoli der „Lyrischen Symphonie“ wie Varady oder Orgonasova kann sie nicht konkurrieren. Auch der Bariton von Roland Hermann bietet stimmlich lediglich durchschnittliche Hausmannskost und keine fernöstlich exotische Geschmacksexplosion.
Eine Repertoirerarität vervollständigt das Album. Franz Schrekers „Vorspiel zu einem Drama“ ist eine doppelt so lange Ausführung der Ouvertüre zur Oper „Die Gezeichneten“. Der nach Eigenangaben „Klangkünstler, Klangphantast, Klangzauberer, Klangästhet mit keiner Spur von Melodie“ bleibt sich auch im „Vorspiel“ in dieser wohl etwas ironischen Selbstschau treu. Michael Gielen lässt den impressionistischen Farbenreichtum der Partitur aufblühen, ohne dass der Hörer jeden Bezug zum Woher und Wohin der Musik verliert.
Das ORF Vienna Radio Symphony Orchester ist eine Klasse für sich und scheint damals in der Zusammenarbeit mit Michael Gielen einen idealen Partner gefunden zu haben. Diese CD ist auch die vierte Veröffentlichung, die dieser Zusammenarbeit gewidmet ist. Weitere Live-Aufnahmen des Labels Orfeo in dieser Kombination gibt es von Berlioz‘ „Lelio“, Mahlers „Das klagende Lied“ und Beethovens „Missa solemnis“.
Dr. Ingobert Waltenberger