CD ALEXANDER KRICHEL „MY RACHMANINOFF“ – Hommage an den russischen Komponisten zum 150. Geburtstag am 1. April, Berlin Classics
Überzeugendes Plädoyer zum Rachmaninoff-Jahr!
Der Hamburger Pianist Alexander Krichel hat Rachmaninows Klavierkonzert Nr. 2 mit der Dresdner Philharmonie unter der musikalischen Leitung von Michael Sanderling 2014 für Sony eingespielt. Nun bringt er gerade rechtzeitig zum 80. Todestag am 28. März und zum 150. Geburtstag des Komponisten am 1. April sein persönliches „Ständchen“ für den Komponisten auf den Markt.
Durch seine prominenten Lehrer Vladimir Krainev und Dmitri Alexeev mit der russischen Schule groß geworden, überrascht Krichel mit einem Temperament, das man – nicht ganz vorurteilsfrei– einem Norddeutschen nie zugetraut hätte. Das bringt es auch mit sich, dass Alexander Krichel bei Rachmaninoff in den eruptiven Ausbrüchen der Études Tableaux Op. 39 den Tastenberserker raushängen lässt. Dieser „risikobereite Tastendonner“ (Verlagstext) wird vielleicht nicht jedermanns Sache sein, steht aber in den Diensten einer universellen Dramaturgie, die Kontraste und pastosen Klang ins Zentrum des Klavierspiels rückt.
Insgesamt ist Krichel ein rauschhaft hochemotionales Album gelungen, das mit einer enormen dynamischen Bandbreite, ausladend geformten Temporückungen und galvanisch virtuosem Tastenzauber ganz „old school“ ist. Eines ist sicher. Kalt lassen wird dieses Spiel niemanden. Krichel fordert vom Hörer, Stellung zu beziehen. Gleichgültig vor den Boxen sitzen, das ist bei Krichel nicht drin. Da geht es nicht zuletzt um die ewige Frage, ob Rachmaninoff nicht eher ein bedeutender Pianist war, als ein tiefschürfender Komponist. Da driften die Meinungen ziemlich auseinander. Ich gestehe, mich bisweilen von den „Vielen Noten“ überrumpelt zu fühlen. Die Frage ist daher, wie kann diese so virtuos gedrechselte gefühlstosende Musik interpretiert werden, um sie in all ihrer Diversität annehmen zu können? Eher sachlich transparent, also wie heute allgemein à la Mode oder im Gegenteil als pianistisches Furioso, vulkanisch glühend und unbedingt im Anspruch, wie uns das Alexander Krichel vorführt?
Antwort habe ich keine, aber nach dem dritten Hördurchgang staune ich immer mehr, wie überzeugend es Krichel gelingt, Rachmaninoffs Musik als plastische Klanglandschaften zu modellieren, wie sehr er pianistische Bravour Expressivität und Wahrhaftigkeit der Musik unterordnet, wie er mit seiner hochpersönlichen Tempowahl schwindelerregende Berg- und Talfahrten hinlegt, dein Eindruck eines pianistischen Freestyle-Motocross-Parcours der Superlative hinterlässt.
Krichel startet das Album mit der cis-Moll Prélude des 19-jährigen Sergei aus den „Morceaux de fantaisie“ Op. 3, der Prélude in g-Moll Op. 23, Nr. 5 und der Prélude in gis-Moll, Op. 32, Nr. 12. Schon hier gibt Krichel im Kern die Kadenz für das Folgende vor. Auf Basis stabiler und dennoch flexibler architektonischer Gerüste leitet er sein Publikum auf seiner schweißtreibenden Tour zu überraschenden Ausblickspunkten mit weiten Horizonten, lässt er der Musik ohne programmatische Plakativität ihr schönes Geheimnis und hebt sie auf eine höhere Ebene der Abstraktion. Belohnt werden diejenigen, die diesen Weg vertrauensvoll mitgehen.
Von den Anfängen springt Krichel mit den Variationen über ein Thema von Corelli Op. 42 zum Ende des kompositorischen Schaffens für Klavier solo von Rachmaninoff. Krichel schätzt an diesem Werk besonders den einzigartigen Energiefluss, der ihm in den Jahren der Pandemie Halt geben konnte. Wir mögen daran vor allem die wahrlich barocke Fülle des Erlebens und Schauens, das romantische Eintauchen in das pralle Leben selbst mit all seinen Extremen, bis zum transzendenten abgeklärten Blick in eine imaginierte Welt jenseits der Realität.
Mit den Études-Tableaux Op. 39 zieht Krichel seinen Kreis um Rachmaninoff fest. Diese „Gemälde“ betonen den erzählerischen Duktus, es handelt sich um blutrot gespachtelte Klangskulpturen, in denen „die hochemotionale Botschaft stets vor dem hoch anspruchsvollen technischen Hintergrund steht.“ Rachmaninoff beschrieb Respighi in einem Brief seine Assoziationen wie folgt: Die erste Etüde in a-Moll stellt die See und Seemöwen dar. Die zweite a-Moll-Etüde wurde durch die Geschichte von Rotkäppchen und dem Wolf inspiriert, eine andere ähnelt einem orientalischen Marsch. Krichel ist der (von mir geteilten) Überzeugung, dass Rachmaninoff diese Zuschreibungen nicht wörtlich, sondern metaphorisch meinte.
„My Rachmaninoff“ ist eine in jeder Hinsicht sehr subjektive Annäherung an das Schaffen des Jubilars geworden. Mit der berühmten Vocalise Op. 34 (Transkription Zoltán Kocsis) als Zugabe lässt Krichel das Album in melancholisch sanglicher Nachdenklichkeit ausklingen. Ein moment de grâce pianistischen Feinschliffs und subtiler Anschlagskultur!
Dr. Ingobert Waltenberger