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CD ALESSANDRO STRADELLA „CIRCE“ – Alessandro Stradella Consort; Dynamic

28.03.2021 | cd

CD ALESSANDRO STRADELLA „CIRCE“ – Alessandro Stradella Consort; Dynamic

 

Veröffentlichung 16.4.2021

8007144079109

 

Der norditalienische Haudrauf oder besser römische „Orpheus“ Alessandro Stradella stellt musikalisch das Bindeglied zwischen Monteverdi und Scarlatti her. Trotz aller Arten von kriminellen Machenschaften, anrüchigen Liebesaffären, vereitelten Mordversuchen und einem unrühmlichen gewaltsamen Tod auf offener Straße fand Stradella genügend Zeit, um qualitätsvolle Musik zu schreiben, ja es gelang ihm, Geniestreiche an melodischer Invention und kühnen Studien eines klingenden „chiaroscuro“ zu hinterlassen. Die überirdisch schönen Concerti grossi von Arcangelo Corelli wären ohne Stradellas Experimentierstube undenkbar. 

 

In seinen nur 39 Lebensjahren produzierte er eine Vielzahl an Kantaten, Oratorien und Konzerten. Auf dem vorliegenden Album stellen uns Estévan Velardi und sein prächtig aufspielendes Originalklangensemble Alessandro Stradella Consort zwei Versionen der Kantate „Circe“ vor. Das Besondere an diesen zwei Fassungen ist, dass sie quasi zwei vollständig unterschiedliche Werke darstellen. Moderatere Überarbeitungen für verschiedene Städte oder Theater bzw. Solisten hingegen waren damals ja an der Tagesordnung und beinahe die Regel. 

 

Lustig und verwirrend ist, dass das barocke Glitterspektakel um die Zauberin Circe im Modener Manuskript  nachträglich als „operetta a tre voci“ bezeichnet wurde. Mit Operette im heute gängigen Sinn hat die Bezeichnung natürlich nicht das Geringste zu tun. Im Gegenteil: Die Musik, die Stradella seinen drei Figuren Circe (Sopran), Algido (Bass) und Zeffiro (Sopran) in die Gurgel notiert hat, wirkt überaus opernhaft mit all den virtuos verzierten Arien,  pompösen und dennoch so flott gedrechselten barocken Schnörkeln, die Stimmen zu kunstvollen Zöpfen liebevoll flechtenden Duetten und dramaturgisch effektvollen Rezitativen. Natürlich folgt die Musik damaligen Formschemata, die dennoch eine ungeheure Vielfalt an Ausdruck und überraschenden Wendungen und reizvollen Affektzuordnungen erlauben. 

 

Die erste „Circe“ besteht aus sechs Arien, zwei Duetten und einem Schlussterzett und beginnt mit einer „Sinfonia“ in zwei Sätzen, während die zweite „Circe“ acht Arien (davon sechs alleine für Circe) , ein einziges Duett und 11 Terzette, von denen eines vier Mal wiederholt wird, ausweist: Spielzeitvergleich 34 zu 47 Minuten. 

 

Die Figur der Circe ist wohlbekannt seit Homer (Odyssee) und Ovid (Metamorphosen). Odysseus war der einzige, dem die unheilvollen Kräuter der Zauberin wegen eines vorher verabreichten Antidots nichts anhaben konnte. Der Rest der Schiffscrew wurde kurzerhand in Schweine verwandelt und in den Koben gesperrt. Erst als Odysseus die Giftmischerin mit dem Schwert bedroht, macht sie die Wirkung ihres Tranks rückgängig und alle feiern ein frohes Fest. Sie bleiben ein Jahr, um sich für die Rückkehr nach Ithaka zu stärken.

 

Seither gilt der Mythos als Gleichnis für die Überlegenheit der Ratio und Wissen über Versuchungen und Verlockungen aller Art. So also sollte  die Ankunft von Leopold von Medici in Rom festlich begangen werden, den Papst Clemens IX. 1667 zum Kardinal ernannt hatte. Aber es gibt auch eine zweite Erzählebene, die in der zweiten Fassung vorherrscht. Da wird der Schatten von Circe ins Spiel gebracht von Algidus, der kristallklare Bäche beschwört und von Zephyrus mit seinen gar lieblich wehenden Lüftchen. Natur und Kunst gehen hier eine höhere Verbindung ein. Referenzen an den Frühling und das allgegenwärtige Knospen und Blühen sollten wohl einen Bezug zum ursprünglich vorgesehenen Aufführungsmonat April herstellen. 

 

Die Handlung der Kantate ist einfach gestrickt: Circe kommt, um das Grab ihres mit Odysseus gemeinsamen Sohnes Telegonus zu besuchen. Blendendes Licht trifft Circes Auge. Algidus deutet an, bei der Erscheinung handle es sich bei um eine bedeutende Persönlichkeit aus dem Hause Medici. Natürlich ist es Leopold, dem die drei Respekt und Ehrehrbietung zollen: Geschenke werden dargereicht. Algidus verwandelt sein Wasser in eine kristallklare Amphore, Zephyrus überreicht ein Bouquet an Seidenblumen und ein Schatten bringt an Circes Statt eine kleinen geschmückte Schatulle, die Parfum, Fächer und Handschuhe enthält. Die zweite komplexere Version preist nicht nur Leopold, sondern generell alle toskanischen Könige. Das Stück ist in polyphoner Madrigaltradition gehalten. 

 

Zusätzlich zu den zwei „Circes“ wartet das Album mit einer Sonate di Viole in D-Dur und einer weiteren Kostprobe aus dem Kammerkantatenschaffen des italienischen Komponisten auf: „Soffro, misero, e taccio“ für Sopran und basso continuo sowie der Prolog zu „La Dori“ für zwei Soprane und Tenor, zwei Violinen und basso continuo komplettieren diese kostbare Zeitreise ins 17. Jahrhundert. Zwei Stunden unterwegs in der imaginären Kutsche von Florenz nach Rom. 

 

Für die Fassungen und die Instrumentierung zeichnet Estévan Velardi verantwortlich. Gesungen und gespielt wird insgesamt vorzüglich. Die klaren, instrumental geführten Stimmen der Cristina Farinelli und Anna Chierichetti erweisen sich als denkbar gute Mittler für die so schwierige Balance zwischen deklamatorischer Wahrheit und überaus fein ziselierter belkantesker Virtuosität. Franceso Toma (Tenor) und Giuseppe Naviglio (Bass) sorgen für männlichen Wohlklang. Leslie Visco in der Titelpartie der Circe in beiden Versionen überzeugt mit individuellem Timbre, Agilität, bestens fokussierter Stimme und expressivem Textverständnis. Zudem ist jedes Wort zu verstehen, welch selten gewordene Tugend. 

 

Wer sich in Zeiten wie diesen der puren Freude an barocker Sanges- und Klangeslust hingeben will,  dem seien diese Cds wärmstens ans Herz gelegt. So viel an aristokratisch-musikalischem Luxus wird man wohl kaum für ein geringeres Entgelt bekommen. Der im Booklet von Lorenzo Tozzi faktenreich getane Blick in die Vergangenheit (nur in italienischer und englischer Sprache; die deutsche Sprache ist besonders in französischen oder italienischen Tonträgereditionen kaum noch zu finden) wird auch die anspruchsvollsten Historiker zufrieden stellen. 

 

Dr. Ingobert Waltenberger

 

 

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