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CD: JACQUES OFFENBACH: ROBINSON CRUSOE; Opera Rara

02.01.2025 | cd

CD JACQUES OFFENBACH: ROBINSON CRUSOE; Opera Rara

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Anlass für diese Plattenreminiszenz sind die beiden Aufführungen von „Robinson Crusoe“ an der Komischen Oper Berlin im Schillertheater vom 22. und 30.12.2024, an denen ich bedauerlicherweise nicht live teilhaben  konnte. Bekannten Augen- und Ohrenzeugen zufolge gab es eine herrlich schräge Offenbachiade in der kritischen Ausgabe von Jean-Christophe Keck und der deutschen Textfassung von Jean Abel zu bewundern. Der Komischen Oper Berlin ist für diese Berliner Erstaufführung zu danken, wenngleich nur in zwei halbszenischen Aufführungen und stark gekürzt. In deutscher Sprache gesungen, hat Regisseur Felix Seiler eine Erzählerin erfunden, „Offenbachs lang verschollen geglaubte Schwester Jacqueline“, die in der Person der pfistergeschwistrigen Andreja Schneider die Handlung kommentierte. Die Rumpf-Aufführungen an der Komischen Oper fanden unter der musikalischen Leitung von Adrien Perruchon statt. Agustín Gómez (Robinson Crusoe), Miriam Kutrowatz (Edwige), Tom Erik Lie (Sir William Crusoe), Karolina Gumos (Lady Deborah Crusoe), Sarah Defrise (Suzanne) und Andrew Dickinson (Toby) und Virginie Verrez (Freitag) sangen die Hauptrollen.

Zeitensprung in das Jahr 1980: Das Label Opera Rara bringt Robinson Crusoe anlässlich des 100. Todestags Offenbachs als Studioaufnahme aus der Henry Wood Hall in London in englischer Sprache mit dem softtenoralen John Brednock als Robinson und der jungen Yvonne Kenny als koloraturspritzige Edwige heraus. Es war auch Opera Rara, die 1973 die britische Bühnenerstaufführung beim Camden Festival in der gelungenen Textfassung von Don White organisierte.

Offenbachs dreiaktige Opéra comique entstand 1867 nach der überaus erfolgreichen „La Grand Duchesse de Gérolstein“ und markiert einen Meilenstein in der musikalischen Entwicklung des mit 14 Jahren aus Köln nach Paris emigrierten Musikers. Vielleicht hat sich der verwegene Jacques später an das Abenteuer des Entfleuchens aus der gewohnten, engen Umgebung entsonnen und den berühmten Stoff des auf einer einsamen Insel gestrandeten Robinson als geeignet für die zweite Zusammenarbeit mit der Pariser Opéra comique betrachtet.

Vieles war im „Robinson“ neu: Songs mutierten zu Arien, die musikalische Sprache machte sich harmonische Errungenschaften der Offenbachischen Zeitgenossen Giacomo Meyerbeer und Richard Wagner auf ganz individuelle Art und Weise zu Eigen, und das nicht im Parodieverfahren. Die wunderbare ‚Sea Symphony‘ oder die üppige Zwischenmusik vor Szene zwei im zweiten Akt dürfen hier als bewundernswerte Beispiele dienen. Die üblichen langweiligen gesprochene Dialoge wurden in der Mehrzahl durch Accompagnato Rezitative oder melodramatische Passagen ersetzt.

Also bekam das Publikum im Endeffekt einen genialen Mix aus Grand Opéra mit großen Chören und Tableaus und der unterhaltsamen Gattung der Opéra comique vorgesetzt, ohne dass der Erfolgskomponist auf Populäres wie Cancan oder Walzer verzichten hätte müssen. Dass in der Oper mit Geschlechtern und Stimmgattungen reizvoll gespielt werden kann, indem man einen Burschen von einem Mezzosopran (in „Hosen“) singen lässt, hat Offenbach schon lange vor dem „Rosenkavalier“ mit der Rolle des „Freitag“ souverän bewiesen. In der Uraufführung wurde „Freitag“ von keiner Geringeren als Celestine Galli-Marié, der ersten Carmen Bizets, verkörpert.

Ob das Libretto von Eugène Cormon und Hector Crémieux, das sich weitaus weniger am Roman von Daniel Defoe als an den damals üblichen pantomimischen Versionen orientierte, oder einfach das Ende des Zweiten Empire am zeitweiligen Verschwinden dieses traumhaft schönen, einzigartigen Meisterwerks (Mit)Schuld tragen? Wir wissen es nicht.

Natürlich bietet „Robinson Crusoe“ eine taugliche Vorlage, die sog. Errungenschaften bzw. die Dekadenz westlicher Zivilisation auf den Prüfstand zu stellen. Und für Offenbach bot sich die Gelegenheit, den Gegensatz von Zivilisation versus ‚wilde‘ Natur, von bürgerlicher Saturiertheit/den ewig selben Five o clock Teas versus Abenteuerlust auch musikalisch gehörig auf die Schaufel zu nehmen und scharf durchzurütteln. Natürlich darf auch die große Liebesgeschichte nicht fehlen.

Die wirklichen „Verrücktheiten“ der Oper in Anbetracht der Entstehungszeit und nach dem ersten, in einem bürgerlichen Salon samt Bibellesung spielenden Akt, liegen wohl darin, dass ein vegetarisch lebender Einheimischenstamm von einem Missionar zu Fleischesgenüssen umgeswitcht wird. Der Geistliche ist der Erste, den die Tamayos gegrillt verkosten. Er wurde wohl falsch verstanden, als er predigte, dass der Mensch nicht von Brot allein lebe. Dazu werden in bester qui pro quo Manier ein Weißer und ein von einer (damals üblicherweise blackgefaceten) Frau gesungener Man of Colour beste Freunde und träumen darüber hinaus in einem langen Duett gemeinsam von Liebe und handfesteren körperlichen Genüssen.

Im ersten Akt erleben wir also Robinson inmitten seiner Lieben, also von Papa und Mama (Sir William Crusoe und Lady Crusoe) und seiner Cousine Edwige. Der verwöhnte Spross lässt sich trotz Widerstands von Edwige, die Robinson am selben Abend ihre Liebe offenbart, wie einst Siegfried in der Götterdämmerung, nicht davon abhalten, in die Fremde aufzubrechen. Ein Mann ist zuerst ein Mann und kann nicht anders. Also tritt er seine gebuchte Überfahrt von Bristol nach Südamerika an. Sein Kumpel Toby bleibt hingegen daheim, weil dessen Verlobte Suzanne offenbar vehementer „Überzeugungsarbeit“ geleistet hat.

Im zweiten Akt finden wir Robinson schon das sechste Jahr auf einer verlassenen Insel an der Mündung des Orinoco (Venezuela) vor. Er konnte sich rechtzeitig vor den Piraten auf das Eiland retten. Sein einziger Freund ist Man Friday, den Robinson befreit hat, als er von den Tamayos, einem auf der Insel heimischen Stamm, dem Gott Saranha geopfert werden sollte. Auf der Insel finden ihn Edwige sowie das mittlerweile zum Ehepaar mutierte Duo Toby und Suzanne auf. Aber zuerst sollten Toby oder Suzanne von Jim Cocks, einem einstigen Nachbar in Bristol und mittlerweile menschenfleischlicher Chefkoch der Kannibalen, für das Dinner zubereitet werden. In der Oper ist das Anlass für ein hanebüchen schrulliges Eintopfduett.

Man Friday befreit alle vier mittels Pistolenschusses, knapp bevor Edwige am Scheiterhaufen Saranha bräutlich geopfert werden soll und dieses Faktum unerschrocken mit dem Koloraturwalzer „Take me away to the one I adore“ quittiert. Man Friday vergafft sich, bisher vom Liebesschmachten seines Freundes Robinson wenig überzeugt, ebenfalls in Edwige, die aufgrund ihres blonden Haars ein Upgrade zur weißen Göttin erfährt. Schließlich werden Robinson, Friday, Toby, Suzanne und Cocks von den Piraten nach Bristol geschippert. Zuvor waren die besoffenen Seeräuber von Robinson durch Hinweis auf einen verborgenen Schatz in die Mitte der Insel gelockt worden. Sie fallen ebenfalls in die Hände der Kannibalen, werden aber von Robinson mit den Musketen der Piraten in seinem Besitz wieder befreit, nicht ohne vorher Captain Atkins das Versprechen abgeknüpft zu haben, sie an Bord zu trauen. Die Oper endet in walzerseliger Eintracht von Piraten und unserem liebgewordenen Fünfergespann auf der Heimfahrt nach Bristol.

Die Aufnahme von Opera Rara ist erstaunlicherweise bis heute die einzige geblieben. Neben Brednock und Kenny hören wir den englischen Schauspieler und bass Roderick Kennedy als bürgerlich steifen Sir William Crusoe, die unerschrockene Opern- und Konzertsängerin Enid Hartle als seine angetraute Lady Deborah, die entzückend resche lyrische Sopranistin Marilyn Hill Smith als Suzanne und den schottischen Tenor Alexander Oliver als ihr Dienerpendant und Verlobten Toby. Die aus Trinidad stammende Mezzosopranistin Sandra Browne brilliert und gurrt auf das schönste in der Rolle von Man Friday, während Cornwall-Urgesteins-Bariton Alan Opie einen eher brav-biederen Kannibalenkoch Jim Cocks abgibt. In einer kleineren Rolle ist Wyndham Parfitt (Will Atkins) zu hören. 

Der Waliser Alun Francis dirigiert den Geoffrey Mitchell Choir und das Royal Philharmonic Orchestra britisch exzentrisch und französisch keck zugleich. Pathos und Komödiantik, feiner Konversationston und große symphonische Gesten tragen zum Gelingen der verdienstvollen Produktion bei. Ihr ist zu verdanken, dass die Musik überhaupt in voller Länge und vokaler wie instrumentaler Gediegenheit gehört werden kann. Jetzt hoffen wir auf eine vollständige Wiedergabe in französischer Sprache. Die Fondation Bru Zane darf sich hier besten Gewissens angesprochen fühlen.

Hinweis: Opera Rara veröffentlichte 2023 eine Box unter dem Titel „Celebrating Offenbach“, die auf sieben CDs mit den Gesamtaufnahmen von Robinson Crusoe, Vert-Vert und Entre Nous ihre Aufwartung macht.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

 

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