CD „68 AVE MARIA aus 7 EPOCHEN“ – 1-3 Solostimmen mit verschiedenen Instrumenten oder a cappella; Antes Edition
Eine ziemliche skurrile Zusammenstellung bietet dieses auf 5 CDs erstreckte freakige Projekt mit einer Gesamtspielzeit von 3 Stunden 47 Minuten und 26 Sekunden. Selbst für die Klassikwelt, die schon einige seltsame Blüten (auf dem Cover sind passend aquarellierte Gänseblümchen und Gräser zu sehen) aufzuweisen hat, bringt es diese Box auf Guiness-Rekordhitzegrade.
Nicht weniger als 68 Ave Maria Vertonungen sind zu hören, also noch immer 66, wenn die Alltagschlager-Version von Schubert und die gigantisch erfolgreiche Koproduktionsnummer von Bach/Gounod außer Acht gelassen werden. Chronologisch oder systematisch wurde bewusst nicht vorgegangen. Wild zusammengewürfelt hören wir von Uralt (Hildegard von Bingen) bis Zeitgenössisch (Stefan Antweiler), von (Schein-)Barock (Giulio Caccini; eigentlich aber aus der Sowjetzeit von Wladimir Fjpdorowitsch Wawilov) bis Romantisch (Anton Bruckner), von Brasilianisch (Villa-Lobos; Herivelto Martins; Alexandre Schubert) bis Estnisch/Kanadisch (Lembit Avesson) und sogar was von Robert Stolz auf 5 CDs verteilt. Jedenfalls stilistisch alles zum Thema, was die Musikgeschichte hergibt. Natürlich sind da interessante Namen zu finden, die die Neugierde anheizen, immer ein wenig sportlich gedacht bei solch einer zumindest der Aufmachung nach absichtlich nichts auslassender Enzyklopädie.
Natürlich W. A. Mozart, natürlich Georges Bizet und natürlich César Franck. Aber „Ave Maria“ von Adam Gumpelzheimer, Bo Wiget, Daniel Pinkham oder die Cowboy am Lagerfeuer-Variante von Karl May? Ja, der Winnetou-Erfinder hat sich 1883 an gottesmütterliche Klänge für Männerchor gewagt! Als Winnetou im letzten Band der Trilogie tödlich verwundet wird, tönt in ihm dieses „Ave Maria“ nach. Auf dem Album erklingt eine Fassung von Arnold Fritsch für Sologesang und Gitarre.
Dass die Opernwelt ganz hervorragend vertreten ist, wundert keinen: Peter Cornelius, Adolphe Adam, Camille Saint-Saens, Gioacchino Rossini, Heinrich Marschner, Giuseppe Verdi, Luigi Cherubini, Leoš Janáček, Gabriel Fauré, Gaetano Donizetti. Den Vogel schießt aber ein anonymer Franziskanermönch aus dem 18. Jahrhundert ab, der es auf der rekordverdächtigen Kompilation auf rekordverdächtige drei Tracks bringt. Natürlich haben sich auch Frauen am Ave Maria versucht. Neben der mittelalterlichen Hildegard fielen mir da noch Fanny Hensel und Regina Wittemeier auf.
Am Anfang war das Wort, also die Kombination des Grußes Gabriels „Gegrüßet seist Du, voll der Gnade der Herr ist mit Dir“ mit dem Loblied Elisabeths „Du bist gebenedeit unter den Frauen und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes.“ Im 16. Jahrhundert kam noch der tröstliche Schlusssatz hinzu: „Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.“ Die vertonten Texte beziehen sich nicht nur auf das klassische „Ave Maria“, sondern stammen auch von Karl May, Sir Walter Scott, Dante Alighieri oder ihrer Majestät der Kaiserin und Königin Elisabeth. Rudolf Weinwurm aus Waidhofen an der Thaya griff auf diese Reime von Sisi zurück.
Wir hören einfache Gesänge voller Volksfrömmigkeit, Gefühliges aus dem 19. Jahrhundert, Unterhaltungsmusik bzw. die Suche nach einer neuen Spiritualität im 20. Jahrhundert. Gesungen wird in lateinischer, deutscher, tschechischer, italienischer, portugiesischer und französischer Sprache.
Die Produzentin Andrea Chudak ist gleich auch die Sopransolistin in 50 der 68 Nummern. Sie will gemeinsam mit den anderen beteiligten Musikern mit der Sammlung einen schlaglichtartigen Überblick über „ein in seiner Gänze kaum zu erfassendes Repertoire vom gregorianischen Choral über Bearbeitungen erfolgreicher Gassenhauer und jene zwiespältigen Salonstücke bis hin zu Gelegenheitswerken von in anderen Genres reüssierenden Komponisten und zeitgenössischen Stücken für die heutige liturgische Praxis“ geben. Das ist auch gelungen. „Originalwerk steht neben Bearbeitungen, kirchenmusikalische Gebrauchsmusik neben profaner Kammermusik, ernste Klänge neben heiteren.
Mit Chudak sorgen Ekaterina Gorynina (Cello), Matthias Jacob (Orgel), Matthias Jahrmärker (Bariton), Stefan R. Kelber (Viola), Robert Knappe (Orgel), Lidiya Naumova (Gitarre), Olaf Neun (Erzlaute), Julian Rohde (Tenor), Jakub Sawicki (Orgel), Michael Schepp (Violine), Andreas Schulz (Klavier), Susanne Walter (Violine), und Almute Zwiener (Englisch Horn, Oboe) für die musikalischen Grüße. Zu loben sind auf jeden Fall das Engagement und der glockenhelle Gesang von Andrea Chudak, der nur in der unteren Mittellage und an dramatischeren Stellen zu einem stärkeren Vibrato tendiert. Die männlichen Gesangskollegen schneiden weniger gut ab. Der pauschal geführte Bariton des Herrn Jahrmärker bleibt ausdrucksmäßig im Ungefähren hängen. Dem technisch perfekt sitzenden Charaktertenor Julian Rohde fehlt es an Samt und Seide im Timbre.
Das Grundproblem der Box ist jedoch die Geduld, die ein längeres Anhören der stimmungsmäßig überwiegend elegisch gestalteten Miniaturen fordert, zumal auch die Mehrzahl der Werke höflich ausgedrückt keine musikalischen Spitzenschöpfungen darstellen.
Dr. Ingobert Waltenberger