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CD 450 Jahre Staatskapelle Berlin – Große Aufnahmen von 1916 bis 2012; Deutsche Grammophon

Geburtstag eines Spitzenorchesters, 100 Jahre Geschichte der Schallplatte – künstlerisch atemberaubende Hommage auf 14 plus 1 (Bonus) CD

19.05.2020 | cd

CD 450 Jahre Staatskapelle Berlin – Große Aufnahmen von 1916 bis 2012; Deutsche Grammophon

Geburtstag eines Spitzenorchesters, 100 Jahre Geschichte der Schallplatte – künstlerisch atemberaubende Hommage auf 14 plus 1 (Bonus) CD

In der Welt der klassischen Musik einen 450. Geburtstag begehen zu können, kommt nicht alle Tage vor. Die Staatskapelle Berlin darf sich in diesem Jahr über solch ein ehrwürdiges Jubiläum freuen. 1570 als Kurbrandenburgische Hofkantorei vom Hohenzollern Kurfürst Joachim II. Hektor gegründet und als Königlich Preußische Hofkapelle seit 1742 dem neu errichteten Opernhaus Unter den Linden verbunden, kann der Klangkörper wahrlich auf eine rekordverdächtige Geschichte verweisen. Nach dem Zusammenbruch des Deutschen Kaiserreiches wurde das Orchester entsprechend der Trägerschaft des Landes Preußen auf Staatskapelle Berlin bzw. Preußische Staatskapelle umbenannt.

Entsprechend der Doppelfunktion als Konzert- und Opernorchester entfallen die gewählten Werke der 14 jeweils einem charismatischen Dirigenten gewidmeten CD dieser „Great Recordings“ gleichermaßen auf Instrumentales und Musiktheater. Wie Daniel Barenboim, der seit 28 Jahren an der Spitze des Orchesters steht, im Vorwort festhält, sind die Beispiele insofern repräsentativ, als sie zum Kernbestand jener Musik gehören, mit der das Orchester und seine Dirigenten sich im Laufe der Geschichte immer wieder neu auseinandergesetzt haben. Der Zeitraum der Aufnahmen reicht von 1916 (Schellackära vgl. auch die Bonus-CD) bis zum Jahr 2012, also sind rund 100 Jahre durch Tonaufnahmen dokumentiert. Die Box darf daher besonders aufgrund der technisch auf einem fantastischen Niveau restaurierten Aufnahme zudem als exemplarische Geschichte der Tonaufzeichnung in Deutschland gelten.

Unter den vielen Dirigenten des Orchesters mit ebenso vielen unterschiedlichen künstlerischen Handschriften wurden 14 als entscheidende Repräsentanten der Tonträger-Ära erkoren, sei es, weil die als Generalmusikdirektoren an der Spitze des Orchesters standen und dessen Spiel- und Klangkultur wesentlich mitgeprägt haben oder entscheidende Phasen ihrer Karriere mit der Staatskapelle Berlin verbunden waren.  Jeweils eine CD ist den Ehrendirigenten Pierre Boulez und Zubin Mehta als auch dem „Principal Guest Conductor“ Michael Gielen gewidmet. Auf besonderen Wunsch des Orchesters wurde die Live-Aufnahme eines Konzerts unter der Leitung von Sergiu Celibidache in die Edition aufgenommen. Im Hinblick auf die Bravour des Orchesters bei Hindemith sowie einer der mitreißendsten Aufnahmen von Brahms „Vierter“ vielleicht das unfassbarste Juwel der Box.

Freilich gab es viele Dirigenten des Klangkörpers aus der Zeit bevor Tonaufnahmen möglich waren. Zumeist handelte es sich um Komponisten, die den historischen Rang des Orchesters belegen, wie etwa Gaspare Spontini, Felix Mendelssohn, Giacomo Meyerbeer, Otto Nicolai und Felix Weingartner, um nur einige zu nennen.

Unter den Rekordhaltern in der Anzahl der Aufführungen finden sich Richard Strauss mit wie über 1000 Opern- und Konzertabenden, besonders aber Leo Blech, der nach eigener Aussage sogar an die 2500 Vorstellungen dirigiert haben soll. Aufschlussreich sind die Berliner Jahre von Otto Klemperer (1927 bis1933). In der künstlerischen Unbedingtheit war schon der junge Klemperer kompromisslos und mit heiligem Ernst an der Sache, Präzision und rhythmische Wucht waren seine Markenzeichen. Besonders begeistern (mich) die Mitschnitte von Aufnahmen Erich Kleibers (Die Moldau, 9. Symphonie von Dvorak) aus den Jahren 1928/1929, während Herbert von Karajan in seinen frühen Jahren mit muskulös schlanken, kammermusikalisch empfundenen, hochenergetischen Aufnahmen von Mozart, Verdi und Beethoven überrascht. Das klingt lange vor der Originalklangbewegung so überaus modern, sehnig, auch ebenso knapp phrasiert, dass Harnoncourt & Co wohl kaum etwas auszusetzen gehabt hätten. Den Klangmagier Karajan gab es offenbar erst später. Historisch ist der Mitschnitt des Finalsatzes aus Bruckners 8. Symphonie vom September 1944 als eine der ersten Stereoaufnahmen überhaupt relevant. Die Tonqualität aller Aufnahmen ist exzellent, plastisch und räumlich.

Suitner, Boulez und Gielen gelten eher als sachliche Realisierer von Partituren. Wer sich jedoch die Achte Symphonie von Franz Schubert D 759 unter Michael Gielen aus der Berliner Philharmonie 2001 anhört, kommt aus dem Staunen nicht heraus, so hochromantisch aufgeladen und wuchtig wird sie dargereicht. Demgegenüber überzieht Pierre Boulez die Sechste Symphonie von Gustav Mahler mit einem kosmischen Licht. Wir lernen daraus: Fokussierte Leichtigkeit im Ton, Wohllaut und Tragik der Botschaft müssen kein Gegensatz sein. Natürlich ist die Box mit 2 CDs auch Hommage an den amtierenden Chefdirigenten Daniel Barenboim. Zuerst ist Barenboim als Dirigent einer bei allem Tiefgang die Orchesterqualitäten faszinierend beleuchtenden Fünften Symphonie von Anton Bruckner, einmal als Virtuosität mit Nonchalance mischender Pianist bei bekannten Klavierkonzerten von Beethoven (3.) und Tchaikovsky (1.) zu erleben.

Als Operndirigenten kommen in Querschnitten auf jeweils einer CD Wilhelm Furtwängler (ekstatisch der Tristan vom 4.10.1947, szenische Neuproduktion), Joseph Keilberth (Macbeth 1950, orchestral so dicht geschürzt wie der Macbeth unter de Sabata) und Franz Konwitschny als erstem DDR Dirigenten der Staatsoper Unter den Linden (Meistersinger-Eröffnungspremiere zur Wiedereröffnung nach dem Krieg vom 4.9.1955) mit unglaublich guten Besetzungen zu Ehren. Die exzeptionell individuell timbrierten Stimmen von Schlüter, Klose und Suthaus, Mödl und Metternich führen vor, was glühende Rollengestaltung und vollkommene Identifikation mit der jeweiligen Figur an einzigartigem Erlebnisgewinn für den Hörer bringen. Anm.: Der „Keilberth-Macbeth“ aus 1950 ist als nicht autorisierte Gesamteinspielung der Labels Myto bzw. Walhall erhältlich. Von der Tristan Premiere 1947 wurden nur die Akte II und III komplett aufgenommen; sie sind ebenfalls in ihrer Gesamtheit bei diversen Anbietern zugänglich. 

Fazit: Abenteuer Hören! Die Übung ist gelungen. Die 15 tönenden Geburtstagskerzen spenden ein zauberisches Licht. Die Box dokumentiert neben dem immensen Können der Orchestermusiker über die Jahrzehnte hinweg wieder einmal das (Gott sei Dank unerklärliche) Wunder der so persönlichen wie spannungsgeladenen Interpretationen auratischer Dirigenten. Außerdem wissen wir jetzt, dass Aufnahmen aus den dreißiger Jahren erstaunlich natürlich, direkt und detailliert klingen können. Daher ist die Box auch als Zeugnis der Aufnahme- und Tonträgergeschichte der letzten 100 Jahre von hoher Relevanz.

Inhalt der Box

Richard Strauss – Mozart: Symphonie Nr. 40 g-moll KV 550; Strauss: Till Eulenspiegel op. 28; Don Quixote op. 28 (Solist Enrico Mainardi) 1927-1931

Leo Blech – Mozart: Le Nozze di Figaro-Ouvertüre KV 492; Don Giovanni-Ouvertüre KV 527; Ballettmusik aus Idomeneo KV 367; Maurerische Trauermusik KV 477; Symphonie Nr. 34 C-Dur KV 338; Bizet: Ouvertüre & Zwischenaktmusiken aus Carmen; L’Arlesiana Suite Nr. 2, Wagner: Einzug der Götter in Walhall aus „Rheingold“; Waldweben aus „Siegfried“; Wotans Abschied aus „Die Walküre“ (Wotan Friedrich Schorr) 1916-1927

Otto Klemperer – Beethoven: Coriolan-Ouvertüre op. 62; Mendelssohn: Ein Sommernachtstraum-Ouvertüre op. 21; Brahms: Symphonie Nr. 1 c-moll op. 68; Strauss: Tanz der sieben Schleier aus „Salome“ op. 54; Weil: Kleine Dreigroschenmusik 1927-1931

Erich Kleiber – Smetana: Die Moldau; Dvorak: Symphonie Nr. 9 e-moll op. 95 „Aus der neuen Welt“; Beethoven: Symphonie Nr. 5 c-moll op. 67 1928-1955

Herbert von Karajan – Mozart: Die Zauberflöte-Ouvertüre KV 620; Verdi: La Forze del Destino-Ouvertüre; Beethoven: Symphonie Nr. 7 e-moll op. 92; Bruckner: Finale aus Symphonie Nr. 8 c-moll 1938-1944

Wilhelm Furtwängler – Wagner: 2. Akt aus Tristan und Isolde – live Admiralspalast Berlin, 3.10.1947 mit Schlüter, Suthaus, Frick, Klose und Prohaska

Joseph Keilberth – Verdi: 1. & 2. Akt aus Macbeth (in deutscher Sprache) – live Admiralspalast Berlin 20.9.1950 mit Mödl, Metternich, Herrmann, Hülgert

Franz von Konwitschny – Wagner: 1. Akt aus Die Meistersinger von Nürnberg – live Berlin Deutsche Staastoper 4.9.1955 mit Herrmann, Adam, Pflanzl, Niese, Müller, Keplinger, Witte und Unger

Sergiu Celibidache – Dvorak: Slawischer Tanz Nr. 8 g-moll; Paul Hindemith: Sinfonische Metamorphosen nach Themen von Carl Maria von Weber, Brahms: Symphonie Nr. 4 e-moll op. 98; Konzert in der Deutschen Staatsoper 15.1.1966

Otmar Suitner – Dessau: Symphonische Adaption von Mozarts Streichquintett KV 614; Reger: Mozart-Variationen op. 132; (beides CD-Premieren) Schubert: Die Zauberharfe-Ouvertüre D. 644; Zwischenaktmusik Nr. 1 aus Rosamunde D. 797 1975-1987

Pierre Boulez – Mahler: Symphonie Nr. 6 a-moll „Tragische“ live 20.4.2009, CD-Premiere

Michael Gielen – Schubert: Symphonie Nr. 8 h-moll D. 759 „Unvollendete“; Schönberg: Pelleas und Melisande op. 5 (CD-Premiere) 1999-2001

Daniel Barenboim – Bruckner: Symphonie Nr. 5 B-Dur –  live Berlin Philharmonie 21.6.2020

Zubin Mehta – Beethoven: Klavierkonzert Nr. 3 c-moll op. 37; Tschaikowsky: Klavierkonzert b-moll op. 23 (Solist Daniel Barenboim) – live Philharmonie 15.11.2012

Bonus CD: Aufnahmen aus der „Schellack-Ära“ mit Max von Schillings, Pietro Mascagni, Hans Pfitzner, Robert Heger, Johannes Schüler, Paul van Kempen, Selmar Meyrowitz, Karl Muck mit Werken von Wagner: Der fliegende Holländer-Ouvertüre; Finalszene aus Parsifal; Siegfried-Idyll; Mascagni: Intermezzo sinfonico aus Cavalleria Rusticana; Pfitzner: Palestrina-Vorspiel; Nicolai: Die lustigen Weiber von Windsor-Ouvertüre; Wolf-Ferrari: Il Segreto di Susanna-Ouvertüre; Reznicek: Donna Diana-Ouvertüre; Verdi: La Traviata-Ouvertüre; Weber: Der Freischütz-Ouvertüre

Das 180 Seiten starke Booklet (deutsch, englisch) enthält ein Vorwort von Daniel Barenboim, den Essay „Ein Jahrhundert klingende Geschichte“ von Detlef Giese, eine Chronik sowie zahlreiche Fotos.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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