CD 150 JAHRE WIENER STAATSOPER – WIENER STAATSOPER LIVE 1955 – 2016, The Anniversary Edition – ORFEO limitierte Sonderedition – Auflage: 1500 Stück, 9 Werke und 2 Bonus CDs
Am 25. Mai 1869 wurde die Wiener Hofoper mit Mozarts Don Giovanni eröffnet. In Zusammenarbeit mit ORFEO veröffentlichte die Wiener Staatsoper aus Anlass des Jubiläums eine Spezial-Edition von neun Opern-Gesamtaufnahmen sowie zwei „Bonus-CDs“, letztere unter dem Titel „Legendary Voices of the Wiener Staatsoper“ (Gesamtbox insgesamt 22 CDs).
Einige Betrachtungen: Die Gesamtaufnahmen verteilen sich auf folgende fünf Direktionen der Nachkriegszeit, was für eine Geburtstagsedition ein nicht wirklich repräsentatives Bild ergibt: Böhm: Wozzeck; Karajan: Fidelio, Elektra; Seefehlner: Le Nozze di Figaro; Drese: Il Viaggio a Reims; Meyer: Tristan und Isolde, Eugen Onegin, Ariadne auf Naxos, Un ballo in maschera. Das heißt, nichts wurde aus den Direktionszeiten Hilbert, Gamsjäger, Wächter oder Holender genommen, die Bonus CD bleiben hier einmal unberücksichtigt.
Natürlich muss sich jede Auswahl nach den verfügbaren Bändern, der Tonqualität, den Rechten etc. richten und auch die zahlreichen, schon bisher veröffentlichten Aufnahmen aus der Wiener Staatsoper ins Kalkül nehmen. Daher soll grundsätzlich positiv die „Das Glas ist halb voll“-Betrachtung angewandt werden. So werden sich viele Opernfreunde über die Erstveröffentlichungen der Box enorm freuen, und je nach Vorliebe die anderen Mitschnitte zu schätzen wissen. Für mich sind etwa der Karajan-Figaro oder Il Viaggio a Reims unter Abbado mit ganz persönlichen Erinnerungen an intensivst erlebte Opernabende an der Wiener Staatsoper verbunden. Magische Aufführungen, unwiederholbar, unverzichtbar, grandios. Alles war auf 100 – Dirigat, Orchester und Solisten. Von der großartigen Stimmung und knisternden Atmosphäre im Haus ganz zu schwiegen.
Als einzigartige und maßstabsetzende Höhepunkte der Wiener Staatsoper würde ich fünf Aufnahmen bezeichnen: Wozzeck, Elektra, Le Nozze di Figaro, Il Viaggio a Reims und Eugen Onegin. Der nach der Papierform legendäre Karajan-Fidelio aus dem Jahr 1962 leidet unter einem heiseren und äußerst angestrengt klingenden Jon Vickers und das Staatsopernorchester ist auch nicht gerade bestens disponiert. Christa Ludwig ist schlichtweg ein Stimmwunder und solide wie die Pyramiden von Gizeh, vom Ausdruck her hatten andere Leonoren wie Jones oder Behrens mehr zu bieten. Die anderen Aufnahmen repräsentieren gutes bis sehr gutes (Repertoire-) Niveau.
Ein Ärgernis ist die Bezeichnung der Bonus-CDs als „Legendary Voices der Wiener Staatsoper“. Hätten die Herausgeber sich auf einen Titel wie „Glanzlichter aus dem Archiv“ entschieden, nichts wäre auszusetzen gewesen. So aber lese ich etwa auch die Namen Orazio Mori und Margeritha Guglielmi bei den Legendary Voices, nur weil sie im Ausschnitt aus der Boheme unter Carlos Kleiber aus dem Jahr 1985 mitgewirkt haben. Zudem gibt es auf zwei CDs zwei Mal Gruberova, zwei Mal Varady, zwei Mal Pavarotti und drei Mal Domingo, aber ganz viele ebenso bzw. wichtigere Namen tauchen gar nicht auf. Mehr Diversität wäre da schon zu wünschen gewesen, auch wenn die akustischen Kostproben selber überwiegend höchst erfreulich sind.
Das Booklet begnügt sich mit der Besetzung und entbehrlichen Inhaltsangaben der Opern (in Deutsch und Englisch). Für eine insgesamt so bedeutende Geburtstagsedition hätte man zumindest einen identitätsstiftenden Aufsatz über die Spezifika gerade des Wiener Opernhauses bzw. mehr Details zu den Aufführungen bzw. die Auswahlkriterien erwarten dürfen. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass alle Käufer ohnedies bis ins letzte Detail Bescheid über das Angebotene wissen.
Die Aufnahmequalität entspricht grosso modo den technischen Standards der jeweiligen Zeit. Insbesondere die Mitschnitte aus den 60er Jahren enttäuschen dann aber doch, zumal ja von den Aufnahmen des Bayerischen Rundfunks aus derselben Zeit (vgl. Böhm Tristan oder Böhm Ring aus Bayreuth) bekannt ist, was damals möglich war. Ab Figaro 1977 ist die Qualität der Mitschnitte überaus zufriedenstellend.
Persönliche Kurzkommentare zu den einzelnen Aufnahmen der CD-Box:
Wozzeck (Alban Berg) | 1955
Dirigent: Karl Böhm
Walter Berry (Wozzeck), Christel Goltz (Marie), Max Lorenz (Tambourmajor), Karl Dönch (Doktor)
Berry als bester Wozzeck aller Zeiten umgeben von einer Besetzung, die authentischer und schärfer typisiert nicht sein könnte. Böhms musikalische Interpretation vereint Modernität und Schönklang, existenzielle Dringlichkeit mit einer fesselnden Individualtragödie.
Fidelio (Ludwig van Beethoven) | 1962
Dirigent: Herbert von Karajan
Christa Ludwig (Leonore), Jon Vickers (Florestan), Walter Berry (Don Pizarro), Gundula Janowitz (Marzelline), Waldemar Kmentt (Jaquino)
Mit freundlicher Genehmigung von Deutsche Grammophon
Siehe oben. Gundula Janowitz singt neben der Seefried die schönste auf Tonträger verfügbare Marzelline.
Elektra (Richard Strauss) | 1965
Dirigent: Karl Böhm
Birgit Nilsson (Elektra), Regina Resnik (Klytämnestra), Leonie Rysanek (Chrysothemis), Wolfgang Windgassen (Aegisth), Eberhard Wächter (Orest), Gundula Janowitz (vierte Magd)
Fast könnte man sagen, DIE Wiener Standard Besetzung über lange Jahre goldenen, kaum je getrübten Opernglücks, jedenfalls für alle die dabei waren. Alle fünf Protagonisten bieten pralles Musiktheater und herrlich üppige Stimmen zum Niederknien. Böhm beweist sich einmal mehr als Strauss Dirigent von Gnaden.
Le nozze di Figaro (Wolfgang Amadeus Mozart) | 1977
Dirigent: Herbert von Karajan
Tom Krause (Il Conte d’Almaviva), Anna Tomowa-Sintow (La Contessa d’Almaviva), José van Dam (Figaro), Ileana Cotrubaş (Susanna), Frederica van Stade (Cherubino), Heinz Zednik (Don Basilio)
In ihrer künstlerischen Geschlossenheit und Vollkommenheit vielleicht die beste Aufführungsserie, die ich überhaupt in meinen knapp 50 Opernjahren live erleben durfte. Frederica van Stades Cherubino, Ileana Cotrubas Susanna mit ausgefahrenen Krallen, aber auch der testosterongestählte Graf von Tom Krause und die luxuriöse Gräfin der auch optisch wunderschönen Anna Tomowa-Sintow sind Teil eines Opernwunders, das Herbert von Karajan damals noch zusätzlich mit Vorstellungen des Il Trovatore, der Boheme und des Don Carlos ausgiebig zelebrierte.
Il viaggio a Reims (Gioachino Rossini) | 1988 | Erstveröffentlichung
Dirigent: Claudio Abbado
Monserrat Caballé (Madama Cortese), Ruggero Raimondi (Don Profondo), Ferruccio Furlanetto (Lord Sidney), Cecilia Gasdia (Corinna), Lucia Valentini-Terrani (Marchesa
Melibea), Lella Cuberli (Contessa di Folleville), Frank Lopardo (Cavalier Belfiore), Chris Merritt (Conte di Libenskof), Enzo Dara (Barone di Trombonok), Carlos Chausson (Don Alvaro) , Ramon Vargas (Gelsomino) u.a.
Claudio Abbado mit freundlicher Genehmigung von Fondazione Claudio Abbado
Ein artistischer Trumpf mit Witz und aberwitzigen Koloraturen, ein Gesamtkunstwerk an Inszenierung, Klamauk mit einem nie wieder egalisierten Aufgebot an italienischen und spanischen Primadonnen und Divos. Die ganze Stadt „feierte“ mit. Die Krönungsprozession wurde auf der Kärntnerstrasse gedreht. Einer der Höhepunkte der an glanzvollen Abenden überaus reichen Drese-Ära. Claudio Abbado at his best!
Tristan und Isolde (Richard Wagner) | 2013 | Erstveröffentlichung
Dirigent: Franz Welser-Möst
Nina Stemme (Isolde), Peter Seiffert (Tristan), Janina Baechle (Brangäne)
Solider Repertoireabend mit großen Stimmen und einem wie bei Richard Wagner stets wunderbaren Staatsopern-Orchester. Von den Solisten her habe ich schon wesentlich aufregendere Tristan Abende an der Wiener Staatsoper erlebt. Ich erinnere mich da sehr gerne an Tristan Aufführungen der Sonderklasse unter Heinrich Hollreiser oder Horst Stein u.a. mit der beinahe Nilsson-Niveau bietenden Ingrid Bjoner, dem baritonalen Spas Wenkoff und Ruza Baldani, oder mit Catarina Ligendza, Spas Wenkoff und Brigitte Fassbaender unter Zubin Mehta.
Eugen Onegin (Peter I. Tschaikowski) | 2013 | Erstveröffentlichung
Dirigent: Andris Nelsons
Anna Netrebko (Tatjana), Dmitri Hvorostovsky (Eugen Onegin), Dmitry Korchak (Lenski)
Anna Netrebko mit freundlicher Genehmigung von Deutsche Grammophon
Eine in jeder Hinsicht wunderschöne und memorable Aufführung. Nicht vergessen werden dürfen jedoch die ebenso magischen Eugen Onegin Abende mit Mirella Freni, Peter Dvorsky, Nicolai Ghiaurov unter Ozawa.
Ariadne auf Naxos (Richard Strauss) | 2014 | Erstveröffentlichung
Dirigent: Christian Thielemann
Johan Botha (Tenor/Bacchus), Soile Isokoski (Primadonna/Ariadne), Sophie Koch (Komponist), Daniela Fally (Zerbinetta)
Aufzeichnung in Kooperation mit Unitel
Ist vor allem als Dokument der luxuriös timbrierten finnischen Sopranistin Soile Isokoski und des immer verlässlichen Höhentigers Johan Botha von Wert. Allerdings gab es in den 70-er und 80-er Jahre Ariadne-Abende mit Gundula Janowitz, Gwyneth Jones, Leonie Rysanek (Seebaum titelte damals „Und ging im Licht“), Jessye Norman oder Tomowa Sintow, sehr oft mit Edita Gruberova als unüberbietbare Zerbinetta, Agnes Baltsa als Komponist und James King als Bacchus, die Generationen an Opernbesuchern (auch mich) nachhaltig geprägt haben.
Un ballo in maschera (Giuseppe Verdi) | 2016 | Erstveröffentlichung
Dirigent: Jesús López Cobos
Piotr Beczala (Gustaf III.), Krassimira Stoyanova (Amelia), Dmitri Hvorostovsky (René)
Der wahrscheinlich beste Tenor der Gegenwart Piotr Beczala ist an diesem Abend nicht in Bestform. Die wunderbare Krassimira Stoyanova darf abseits jeden Starrummels als leuchtendes Symbol so vieler erstklassiger und großer dramatischer Sopranistinnen dienen, die der Wiener Staatsoper in der Rolle der Amelia ein so unverwechselbares Profil gaben. Ich möchte hier nur einige erwähnen: Martina Arroyo, Lilijana Molnar-Talajic oder Margaret Price.
2 Bonus CDs mit dem Titel Legendary Voices of the Wiener Staatsoper
Extrem erfreulich sind die Veröffentlichungen eines Ausschnitts aus der Kleiber Boheme 1985 (Freni, Pavarotti), der Aida-Excerpts mit Varady, Lipovsek unter Badea oder mit Freni und Pavarotti unter R. Abbado. Unnötig erscheinen der kurze Auszug aus Lady Macbeth von Mzensk mit Denoke oder das Liebesduett aus Lohengrin 1997 mit der „späten“ Studer (die mir in ihrer Blütezeit einige der schönsten Aufführungen beschert hat) und Botha. Es fehlen so viele der wirklichen Legenden, dass eine Aufzählung jeden Rahmen sprengen würde..
Fazit: Die Box bietet wenig Mittelmaß, viel Erfreuliches und partiell umwerfend Gutes. Alleine schon Karajans Figaro (wer behauptet, dass Karajan nicht Mozart kann, sollte sich das anhören) würde die Anschaffung rechtfertigen. Defizite betreffen die Unausgewogenheit der Auswahl, das wahrlich nicht informative Booklet und das unzutreffende Wording „Legendary“ bei den beiden Bonus CDs. Dennoch ein großes Geschenk an Melomanen in aller Welt und jede Mühe der Befassung wert.
Dr. Ingobert Waltenberger