CARLOS ÁLVAREZ
„Oper bietet eine wunderbare Möglichkeit, der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten!“
(September 2017 / Renate Publig)
Carlos Álvarez © unbezeichnet
Zum Auftakt der neuen Spielzeit an der Wiener Staatsoper sprach der sympathische Bariton Carlos Álvarez über die Aktualität von Opernthemen und über den psychologischen Effekt, die Rolle der Bösewichte zu spielen. Er nahm sich Zeit, um sich humorvoll und zugleich ernst über die Wichtigkeit von Gesundheit zu äußern – und darüber, welche Partien er sich für die Zukunft vorstellen könnte.
Herr Álvarez, gleich zu Beginn der Saison der Wiener Staatsoper steht Mozarts „Le Nozze di Figaro“ am Programm, Sie feiern hier Ihr Rollendebüt als Graf Almaviva. Zur Entstehungszeit galt die Oper als brisant, übte sie doch Kritik an der Vorherrschaft der Aristokratie aus. Etwas mehr als 200 Jahre später begegnen wir nach wie vor den Klassenunterschieden. Einige Themen in dieser Oper verlieren also nichts an Aktualität?
Die Aktualität der Themen ist für mich einer der Gründe, warum das Genre Oper immer modern bleibt. Nicht nur, weil sich im Prinzip gesellschaftlich wenig änderte, sondern vor allem – ob das nun als gut oder schlecht anzusehen ist! –, weil sich die Menschheit überhaupt in ihrem Verhalten nicht verändert. Alles scheint sich zu wiederholen, auch die Probleme, die Klassenunterschiede betreffen, egal, welches Zeitalter wir betrachten. Deshalb sehe ich Oper als wunderbare Möglichkeit, der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten, weil Oper sehr oft überspitzt zeigt, was wir eben nicht wiederholen sollten! Es wäre wünschenswert, wenn das Publikum eine Vorstellung nicht nur wegen der guten Musik und der schönen Stimmen besucht, sondern um über jenen Themen nachzudenken.
Also betrachten Si „Le Nozze“ vorrangig als sozialkritische und erst in zweiter Linie als romantische Oper?
Die Sozialkritik ist der Hauptaspekt, verpackt in wunderbare Liebesgeschichten, um uns die schwierigeren Themen zu versüßen. Diese Liebeswirren machen die Handlung attraktiver, deren Basis bildet jedoch die Französische Revolution, der Kampf der sozial niederen Klassen gegen die Macht. Mozart und da Ponte haben die Geschichte von Beaumarchais genial auf ihre Zeit, ihre Umstände umgemünzt.
Die Vorgeschichte von „Le Nozze“ ist das Thema einer anderen Oper, in „Il Barbiere“ begegnen wir jedoch einem Almaviva, dessen Umgang mit Rosina und mit Figaro zuvorkommender bzw. galanter ist. Haben Sie dies bei Ihrer Interpretation von Almaviva im Hinterkopf?
Unbedingt, obwohl der Graf dadurch unsympathischere Züge bekommt. Sein Verhalten ist richtig ungut. Weil er sich dieses Benehmen erlauben kann, er hat dazu die Macht! Heutzutage haben wir Gesetze und Regeln für soziales Verhalten, im Normalfall kann man es sich nicht mehr erlauben, in aller Öffentlichkeit so zu agieren wie Almaviva.
Es ist in jedem Fall von Vorteil, möglichst viel Hintergrundwissen über die Personen, die Geschehnisse, die historischen Ereignisse zu haben, um eine Figur zu gestalten. Ich habe den Figaro sowohl in „Il Barbiere“ als auch in „Le Nozze“ gesungen, aber auch den Almaviva!
Die Perspektive auf eine Figur entwickelt sich natürlich auch durch eigene Lebenserfahrung. Außerdem hängt die eigene Interpretation davon ab, welche der Sicht die KollegInnen auf ihre Figuren haben – Oper wird spannender durch Interaktion!
Da Sie als Figaro bereits auf der Bühne standen, kennen Sie das Werk natürlich besonders gut?
Stimmt! Wenn man in der Haut der anderen Rolle gesteckt hat, könnte man für diese Person eine Empathie entwickeln. Um ehrlich zu sein: Sowohl Figaro als auch Leporello sind Diener. Doch ich ziehe die Person Figaros dem Leporello zweimal vor! Figaro ist ein Revolutionär, der für seine Ideen, seine Rechte einsteht, während Leporello ein Möchtegern-Don Giovanni ist, ein Fähnchen im Wind. Natürlich wäre auch Figaro gerne in der Rolle des Grafen, meinem Gefühl nach jedoch in erster Linie, um bessere Bedingungen für alle zu schaffen!
„Contessa, perdono“ zählt für mich zu den magischen Momenten dieser Oper. Die Musik könnte man sogar so interpretieren, dass dem Grafen tatsächlich sein Handeln bewusst wird. Er könnte sich ändern. Aber wird er das?
Nur für die nächsten fünf Minuten! (lacht) Er weiß im Prinzip die ganze Zeit, was er tut, und er könnte eine erfüllte Beziehung zur Gräfin haben. In „Il Barbiere“ hat er Rosina ja wirklich geliebt! Doch die Ehe wurde zur Gewohnheit, er sucht nach Abwechslung.
Außerdem ist das Paar kinderlos …
… was ihm noch mehr Freiheiten gibt. Doch dieser Moment, „Contessa perdono“ ist ein kurzer Augenblick tiefster Introspektive, indem ihm nicht nur bewusst wird, was er getan hat, sondern er realisiert, dass er sich nie ändern wird.
Sie erwähnten bereits, welch wichtige Rolle Bühnenpartner spielen. Ihre Contessa, Dorothea Röschmann, war auch Ihre Desdemona in Salzburg letztes Jahr!
Und wir standen hier als Figaro und Susanna auf der Bühne! Wir sind quasi befördert worden! (lacht)
Ist es etwas Besonderes, gemeinsam in derart unterschiedlichen Werken aufzutreten?
Je öfter man gemeinsam auf der Bühne steht, je sicherer man im Umgang ist, umso mehr Freude hat man in diesem Beruf! Man vertraut einander, weil man weiß, dass der andere auf die eigene Interpretation reagiert, es entsteht ein wunderbares Zusammenspiel.
Ihr Repertoire umfasst viele unterschiedliche Kompositionsstile, und natürlich singt man Mozart und Verdi nicht unmittelbar hintereinander. Bereiten Sie sich gesangstechnisch anders vor, ob nun Mozart, Verdi oder Donizetti auf dem Programm steht?
Wenn wir von der reinen Gesangstechnik sprechen: Nein. Der einzige Unterschied besteht in den Noten, und zu diesen Noten muss man, „ehrlich“ sein. Damit meine ich, im Rahmen der eigenen Stimmenmittel den richtigen Ausdruck für die Partie zu finden, und nicht den Klang künstlich auf die Anforderungen der Partie hinzubiegen, denn das verursacht langfristig Stimmprobleme. Es ist unerlässlich, nur jene Partien zu singen, die „ehrlich“ im Stimmrepertoire enthalten sind. Mit dieser Einstellung fahre in sehr gut, mittlerweile stehe ich seit 30 Jahren auf der Bühne. Es ist verrückt, Andrea Carroll, die die Susanna verkörpert, war noch nicht mal geboren, als ich meine Sängerlaufbahn startete!
Álvarez als Père Germont in Verdis „La Traviata“ © Wiener Staatsoper/Michael Pöhn
Zu einer anderen Oper: Sie feierten heuer großen Erfolg als Iago in Verdis „Otello“. Es gibt sehr wenige Opernpartien, die fast ausschließlich „böse“ sind – für mich ist Iago eine dieser Partien. Wie stehen Sie zu dieser Rolle?
Im Grunde ist Iago ein „normaler“ Mensch, der sich von Otello übergangen fühlt. Otello beförderte Cassio zum Hauptmann, nicht ihn! Die wahrhaft eifersüchtige Figur in dieser Geschichte ist also Iago, nicht Otello – dem würde nicht im Traum einfallen, misstrauisch gegenüber Desdemona zu sein. Doch dann spielt der Zufall Iago in die Hand – er findet das Taschentuch, und er erkennt, wie manipulierbar Otello ist. Also sät er Zwietracht.
Ich zeige Iago als Menschen, dessen Erwartungen sich nicht erfüllten und der seine Enttäuschung in Hinterlist umwandelt. Und ich lege die Partie so an, dass Iago seine Niedertracht ist nicht offen zur Schau trägt – das macht ihn umso gefährlicher! Ich mag nicht das Offensichtliche, sonst ist es für das Publikum nicht mehr überraschend.
Eines der Hauptmotive in Otello ist Rache – was Ihrer eigenen Persönlichkeit nicht zu entsprechen scheint. Finden Sie Figuren spannender, die einen Kontrast zu Ihrem eigenen Wesen bilden?
Ich persönlich kann mit dem Konzept Rache gar nichts anfangen. Genau das macht den Reiz, psychologisch eine wunderbare Übung. Man kann auf der Bühne alles machen, ohne dafür zur Verantwortung gezogen zu werden – weil ja nichts davon real ist.
Auf der Bühne bin ich jedoch nicht mehr im eigentlichen Sinn ich selbst, es ist „nur“ mein Körper, meine Stimme. Auf der Bühne möchte ich nicht, dass das Publikum denkt „ah, das ist Carlos“, sondern die Zuhörer sollen die Figur sehen, die ich verkörpere. Nur diese Figur.
Sie sprachen von einer psychologischen Übung …
Eine Partie zu verkörpern, von der man meint, dass sie der eigenen Persönlichkeit nicht entspricht, ist nicht nur eine schauspielerische Herausforderung. Es ist eine fantastische Gelegenheit zur Introspektive, zu analysieren, welche Anteile doch in einem stecken. Das kann sehr heilsam sein, denn es gefällt einem nicht immer, was man da entdeckt. Schließlich haben wir alle auch dunklere Seiten! (lacht) Diese Anteile kann man auf der Bühne ausleben und in „gesichertem Rahmen“ feststellen, was passiert, wenn man den dunklen Seiten nachgeht – man kann auf diese Weise an der eigenen Persönlichkeit arbeiten. Doch man muss einen gesunden Zugang zu diesem Beruf entwickeln. Das Wichtigste ist, nach der Vorstellung den „Mantel“ der Rolle in der Garderobe zu lassen. Wenn ich heimgehe, bin ich wieder Carlos, nicht Iago oder der Graf.
Als Bariton gewöhnt man sich daran, das Böse zu verkörpern, Personen, die entweder das Recht vertreten oder Macht haben – positiv oder negativ. Umso erfrischender ist es, wenn man eine komische Rolle spielen darf.
In einer der komischen Rollen dürfen wir Sie in dieser Saison erleben – als Sulpice in Donizettis „La fille du régiment“!
Es bereitet großen Spaß, in die Rolle des fetten, glatzköpfigen Sulpice zu schlüpfen. Als ich das erste Mal in Maske die Bühne betrat, erkannte mich niemand, nicht einmal meine Kinder. Ich liebe es, mich hinter einer Maske zu verstecken, das eröffnet schauspielerisch neue Möglichkeiten.
Allerdings ist es nichts Neues, dass es viel schwieriger ist, auf der Bühne lustig zu sein, als den Bösewicht zu spielen.
Weil sich Menschen eher darüber einig sind, was böse ist, als was sie komisch finden …
Genau! Nun endlich eine heitere Rolle zu singen, war natürlich fantastisch. Als Bariton ziehe ich schon automatisch meine Augenbrauen zusammen und blicke böse, wenn ich die Bühne betrete! (lacht) Eine komische Partie ist wie eine Seelenmassage.
Ich weiß nicht, ob Sie darüber sprechen wollen – es gab vor rund zehn Jahren gesundheitlich eine schwierige Episode in Ihrem Sängerleben …
Das gehört zu meiner Geschichte, und es wäre ein Fehler, diese Zeit zu verdrängen. Ich hatte Wucherungen in der Nähe der Stimmbänder, die nichts mit dem Singen an sich zu tun hatten. Es handelte sich nicht um Stimmbandknötchen, auch nicht um Krebs, doch der hätte daraus entstehen können! Denn in Wahrheit hatte ich Glück: Normalerweise dauert es länger, bis diese Knoten entdeckt werden. Eben durch das professionelle Singen merkte ich, dass etwas nicht stimmte. So wurde das Problem rechtzeitig erkannt!
Zudem hatte ich Glück im Unglück wegen des Zeitpunktes. 2008 war ich seit 20 Jahren auf der Bühne und gut etabliert. Wäre das ganze jetzt passiert, hätte es vielleicht das Ende meiner Karriere bedeutet, in dem Alter glaubt niemand mehr an dein Comeback. Wäre es in meinen Anfängen geschehen, hätte mir möglicherweise kein Operndirektor mehr Vertrauen entgegengebracht.
Was hat Ihnen damals geholfen?
In dieser schwierigen Zeit erfuhr ich unglaubliche Unterstützung durch meine Familie, durch Freunde, Kollegen, Theater – alle waren sehr positiv und wollten wissen, wann ich wiederkäme! Wien nahm mich weiter unter Vertrag, auch während des Direktionswechsels. Dominique Meyer meinte, ich könne sofort auftreten, sobald ich wieder bereit sei, und sollten wir bei den Proben festzustellen, dass es doch noch zu früh wäre, würden wir es eben später noch einmal versuchen. Das gab mir fantastischen Rückhalt. Und ich hatte ein Ziel!
Dachten Sie je nach über ‚Was wäre, wenn …‘?
Man wird sich schlagartig bewusst, dass das Leben nicht aufhört, wenn man die Sängerlaufbahn beendet. Man hat weiterhin Verantwortungen, man hat Rechnungen zu zahlen. Also musste ich Entscheidungen treffen, mir Alternativen überlegen! Meine Frau begann wieder zu arbeiten – sie ist Gesangslehrerin. Das macht sie auch heute noch, doch heute unterrichtet sie gratis. Das mache ich auch, wenn ich Zeit habe, denn zum Glück sind wir auf das zusätzliche Geld nicht mehr angewiesen! Damals, als ich pausieren musste, verlangte sie 20 EUR pro Stunde, für einen Gesangsstudenten eine Menge Geld! Wenn man hört, was manche Kollegen für eine Stunde verlangen, ist das ein Skandal.
Endlich feierten Sie Ihr Comeback – können Sie das Gefühl von damals beschreiben?
Mein erstes Comeback war relativ bald, nach der ersten Operation, im August 2009 sang ich wieder Don Giovanni in Zürich, Falstaff in Rom – bis Jänner 2010. Dann merkte ich während der Proben zu Attila, dass sich das Gewebe wieder vergrößerte. Es gab zwei weiteren Operationen, bis die Sache endgültig besiegt war. Dieses erste Comeback gab mir jedoch Vertrauen, dass es auch beim nächsten Mal klappen würde.
Und so kehrte ich im Mai 2011 endgültig auf die Bühne zurück, in einem Konzert in Bilbao – das war sehr berührend, vor allem die Reaktionen vom Publikum und von meinem Pianisten. Richtig emotional wurde für mich jedoch mein Auftritt in Otello in Valencia, 2012. Ich war mir sicher, dass ich es schaffen würde, und doch musste ich mir beweisen, dass ich das Richtige tat. Nach der Aufführung – Zubin Mehta dirigierte, natürlich unterstützte er mich sehr! – stand ich auf der Bühne, die Tränen sind mir runtergeronnen. Da kam alles zusammen, die Emotion, aber auch die Erleichterung, weil ich mir bewusstwurde, dass all die Anstrengungen nun tatsächlich belohnt wurden.
Nach dem Rückblick nun ein Ausblick in die Zukunft. Sie haben natürlich bereits viele wunderbare Partien gesungen. Gibt es noch Rollen, die Sie reizen würden?
Mein Traum wäre das deutsche Repertoire – doch gleichzeitig schrecke ich davor zurück. Für mich bilden Musik und Sprache eine untrennbare Einheit, und ich schäme mich zwar, aber ich beherrsche Deutsch nicht. Jedenfalls noch nicht. (lacht)
Doch vor zwei, drei Jahren wurde ich in Oviedo als bester Bariton der Saison in Spanien ausgezeichnet, und für die Gala durfte ich einen Wunsch äußern, was ich singen wollte. Ich entschied mich für Wolfram, „Oh du mein holder Abendstern“ und erhielt sofort den Rat, über einige der lyrischen Wagnerpartien nachzudenken.
Und wie sieht es mit Onegin aus?
Den sang ich bereits in Madrid, mit 28, meine Tatjana war Karita Mattila! Die Musik hatte sich mir sofort erschlossen, sie ist so „logisch“ komponiert. Aber der Text! Ich brauchte sechs Monate und arbeitete noch während der Proben mit Schummelzettel. Dass Puschkin den Text in Reimen verfasste, half nur fürs erste. Noch dazu beherrsche ich die kyrillische Schrift nicht, ich musste also transkribieren.
Diese Partie würde ich dennoch gerne wieder singen, allerdings müsste die Regie entsprechend aufgebaut sein. Ich bin ja mittlerweile nicht mehr so jung, wie Onegin sein sollte. Doch mit einer Inszenierung, die diese Oper sozusagen als Flashbacks zeigt, könnte es funktionieren. Da wäre ich sofort dabei!
Und wirklich neue, also zeitgenössische Opern?
Neue Kompositionen würden mich sehr interessieren. Ich möchte keine Diskussion über „Regie“ starten, doch manchmal frage ich mich, wenn die Deutung einer Oper so gar nicht mehr dem entspricht, was im Libretto und in der Musik steht, wenn also mit Gewalt ein neuer Inhalt konstruiert wird – warum schreibt man nicht gleich ein neues Werk?
Die Herausforderung heutzutage besteht meiner Meinung nach darin, eine Oper traditionell, aber dennoch modern zu inszenieren. Eine Handlung intelligent zu erzählen, neue Perspektiven zu eröffnen, aber bei der Originalgeschichte des Stückes zu bleiben.
Doch zum Glück gibt es so viele wundervolle Opern, die ich bereits gesungen habe, und die ich auch weiterhin singen möchte. Denn je öfter man diese Meisterwerke singt, umso mehr gibt es zu entdecken!
Herr Álvarez, vielen Dank für das Gespräch und toi, toi, toi für Ihr Wiener Rollendebüt!
Das Gespräch führte Renate Publig am 1. September 2017 in der Wiener Staatsoper