Dieter Stiefel:
CAMILLO CASTIGIONI oder Die Metaphysik der Haifische
350 Seiten. Böhlau Verlag, 2012
Wer schreibt schon Biographien von Geschäftsleuten, mögen sie noch so erfolgreich sein? Aber bei Camillo Castigilioni liegt der Fall anders. So, wie man dieses Buch von Dieter Stiefel liest, Professor am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte und so gar nicht professoral, sondern wunderbar lesbar in seiner Schreibweise, hat man nahezu etwas wie ein Abenteuerschicksal vor sich. Stiefel befasst sich offenbar schon lange mit der Figur Castiglionis, denn er verfasste schon 1988 das Drehbuch zu einem Fernsehfilm, das Peter Patzak unter dem Titel „Camillo Castiglioni oder die Moral der Haifische“ fürs Fernsehen verfilmte. Nun umfasst Castiglionis Lebensgeschichte, unter dem variierten Titel „Camillo Castiglioni oder Die Metaphysik der Haifische“ 350 Seiten und erzählt mehr, als man gemeiniglich weiß, dass er nämlich der Mann war, der es Max Reinhardt in den zwanziger Jahren ermöglichte, dem Theater in der Josefstadt seine unverwechselbares heutiges Gesicht zu verleihen…
Der Klappentext beginnt mit der Feststellung: „Spekulation ist kein Kind der Gegenwart.“ Kriegsgewinnler auch nicht, möchte man hinzufügen, denn genau das war dieser 1879 in Triest geborene Rabbinersohn, der seine großen Geschäfte mit dem Ersten Weltkrieg in Österreich machte, aber nach dem verlorenen Krieg ganz schnell zur italienischen Staatsbürgerschaft umschwenkte, die ihm günstiger schien. Als er 78jährig starb, hat man ihn am katholischen Friedhof von Rom begraben. Nachrufe nannten ihn einen der größten Finanzmänner des Jahrhunderts…
Ein schräger Vogel war er jedenfalls, und es ist seinem Autor hoch anzurechnen, dass er diese schillernde Gestalt weder beschönigt noch spekulativ heruntermacht, obwohl Castiglioni ja wohl keinen Test auf einen besonders edlen Charakter bestanden hätte. Tatsächlich war er ein Spieler, ein Hasardeur, und er hat oft gewonnen und dann noch öfter verloren. Interessant, dass viele Augenzeugen zwar feststellten, dass er optisch nicht viel hermachte, aber offenbar faszinierende Augen besaß. Das hat man auch anderen nachgesagt…
Das Buch sieht ihn kapitelweise als Industriellen, als Finanzier, am Ende als Mäzen und einiges dazwischen. Tatsache war, dass er die Nase vorne hatte, die Möglichkeiten, die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in Flugzeug und Auto lagen (und in den Reifen, die man dafür brauchte), erkannte und nützte. Nur das Ballonfahren wurde nicht so erfolgreich, wie er vielleicht dachte. Er gründete Fabriken, Banken, Clubs, er sicherte sich die Wiener Presse und finanzierte die Zeitungen des übel beleumdeten Imre Bekessy mit (freilich, Karl Kraus konnte er nicht kaufen, der nahm einen Mann wie Castiglioni ganz selbstverständlich aufs Korn, er sprach von den Haifischen, die lesebuchreif angebetet würden). Als er sich mit Bekessy zerstritt – was Kraus sogar in einem Schlüsselstück auf die Bühne brachte – reagierte Castiglioni darauf mit derselben Gelassenheit, die er meist zur Schau stellte.
Castiglioni zählte zu jenen Spekulanten, die reich werden, wenn die anderen verarmen, also in der Zwischenkriegszeit, wo er dann auch für die Salzburger Festspiele und Max Reinhardt als Mäzen fungierte. All seine Geschäfte hier aufzuzählen, ginge ins Unendliche, da muss man sich schon im Buch festlesen, was nicht nur für Wirtschaftsfachleute interessant ist. Er lebte in einem mit Kunstschätzen gefüllten Palais in der Prinz-Eugen-Straße, um seine Villa am Grundelsee ranken sich heute noch Legenden, er verkehrte in höchsten Kreisen (bei Kaiser Franz Joseph bekam er nur eine Audienz, Kaiser Karl und Mussolini kannte er besser), und er war zwischen Wien, Berlin, Rom, Budapest immer unterwegs,so dass man seiner auch kaum habhaft werden konnte. Wenn nötig bot er, wie man lesen kann, „seine gesamte Schauspielkunst mit Tränen“ auf und „drohte mit Selbstmord“, um seine Spekulationen durchzupeitschen. Oft war die Justiz hinter ihm her, aber er hatte auch immer Freunde, die Akten auch verschwinden ließen… Am Ende verhinderten gelegentlich Banken seinen Zusammenbruch, um Schlimmeres zu verhüten (auch das kommt einem, wie so vieles in dieser Geschichte, bekannt vor). Ein Schicksal wie ein Roman. Zahlreiche Zeitungskarikaturen, die sich auf ihn beziehen, geistern anklagend oder witzig durch das Buch.
Während des Krieges wollte Castiglioni in die Schweiz abtauchen, wurde dort ausgewiesen und versteckte sich in einem Kloster in San Marino: Dass er dort in einer Mönchskutte (!) darauf wartete, dass die für ihn als Juden gefährlichen Zeiten vorbeigingen, passt in dieses „Drehbuch“ – denn anders kann man dieses Leben kaum bezeichnen (seine dritte Frau war in die USA emigriert). Nach dem Krieg machte Castiglioni dann Geschäfte mit Tito in Jugoslawien, aber seine große Zeit war vorbei. Er starb 1957 im Wohlstand, war aber nicht mehr die Finanzmacht, die er einst dargestellt hatte…
Würde man heute eine Geschichte der aktuellen Finanzhaie à la „Bernie“ Madoff und ihrer Milliarden-Betrügereien erzählen – ob sie auch so unglaublich wären? Vermutlich.
Renate Wagner