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BUDAPEST / Staatsoper: „ANNA KARENINA“. Packend vertanzte Weltliteratur

12.03.2017 | Ballett/Performance

BUDAPEST/ Staatsoper:  „ANNA KARENINA“. Packend vertanzte Weltliteratur

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Sehr poetisch-innige Liebe: Lilly Felméry (Kitty) und Dmitri Timofeev (Levin). Copyright: Zsófia Pályi

„Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie dagegen ist unglücklich auf ihre besondere Art.“ So lautet der erste Satz aus Lew Tolstois Roman „Anna Karenina“. Die ungarische Choreografin Lilly Pártay hat 1991 ihre Ballettversion dieser unglücklich miteinander verwobenen Familiengeschichten auf die Bühne gebracht. Anlässlich ihres 75. Geburtstages gab es nun eine Wiederaufnahme  dieser vertanzten Fassung des berühmten Gesellschaftsromans aus dem Russland des 19. Jahrhunderts. Im Roman aus der Epoche des russischen Realismus geht es um die Moralvorstellungen in der adeligen Gesellschaft am Beispiel der drei Familien: Fürst Oblonski und seine Gattin Dolly sowie deren Schwester Kitti und ihr Mann, der Gutsbesitzer  Lewin sowie Anna als Schwester des Fürsten, die mit dem wesentlich älteren Karenin verheiratet ist. Die unglücklich verheiratete Anna schlittert in eine leidenschaftliche Affäre mit Wronski, die sich in der Übertretung der gesellschaftlichen Konventionen ihrer Zeit zur tödlichen Tragödie entwickelt. Als Ehebrecherin ist sie Opfer und Täterin zugleich. In ihrem sozialen Umfeld als Ausgestoßene stigmatisiert, findet sie als empfindsame Frau für sich keinen anderen Ausweg als den Freitod als grausame Konsequenz dieser für sie unerträglichen Erfahrung. Dieser Liaison stellt Tolstoj das harmonische Leben von Kittis Familie gegenüber und macht damit seine Einstellung in der Figur des Gutsherren Levin klar, dass dem Landleben ein höherer Stellenwert zukommt als dem von Oberflächlichkeit geprägtem Stadtdasein. Anna Karenina ist eine der bekanntesten Ehebrecherinnen der Weltliteratur. Ihr Schicksal wurde mehrfach verfilmt wie u.a. mit Greta Garbo (1935), Vivian Leigh (1948) oder mit Sophie Marceau (1997).

Anders als in dem in Wien bekannten gleichnamigen Ballett von  Boris Eifman (2001 UA St. Petersburg), in dem er sich auf die Dreiecksbeziehung konzentriert und sie in der für ihn typischen Form als Tanz-Psychodrama mit packender Leidenschaftlichkeit umsetzt, ist Lilla Pártay bestrebt möglichst den komplexen Handlungsstrang zu skizzieren, aber auch die darin aufgeworfenen seelischen Nöte aller Hauptpersonen zu analysieren und tänzerisch darzustellen. Dazu verwendet sie vor allem Musik von Peter I. Tschaikowski (Zusammenstellung: Gyula Jármai), aber auch moderne Kompositionen von Zoltán Rácz:  das Amadinda Percussion Ensemble untermalt – eingespielt vom Tonträger – die visionären Phantasien der Protagonistin klangtechnisch. Die Kostüme von Judit Schäffer  sind entsprechend der Entstehungszeit der Handlung angepasst, das Bühnensetting besteht vor allem aus Prospekten, die in offener Verwandlung rasche Schauplatz- und Szenenwechsel ermöglichen; dazu ergänzen einige wenige Möbelstücke wie ein Bett oder einige Stühle die knapp gehaltene Ausstattung, um dem Tanz und den emotionalen Zuständen entsprechend viel Raum zu geben (Setdesign: Lóránt Kézdy).  

Allen Hauptpersonen gemeinsam ist, dass sie jeweils einen Wandel in der Haltung oder in den Gefühlen durchlaufen. Dramaturgisch schließt sich der Kreis des Bühnengeschehens: treffen im Prolog alle handelnden Personen auf dem Bahnhof in Moskau aufeinander, als sie mit dem Zug ankommen (der durch 2 Lichter im dichten Rauch der Lokomotive markiert wird); hier trifft Anna auch erstmals auf Vronszkij; ihr Selbstmord am Ende wird durch ein Pfeifen und das Kreischen der Bremsen  akustisch dargestellt – und dieselben Personen versammeln sich, gefangen in ihrem eigenen Schicksal, um den Leichnam.  

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Eine Frau zwischen 2 Männern: Alexandra Kozmér (Anna) mit Zoltán Olah (Vronszkij) und Iurii Kekalo (Karenin). Copyright: Zsófia Pályi

Überzeugend Alexandra Kozmér als Anna, die sich aus der Fessel ihrer Ehe ohne Rücksicht auf ihren Mann oder ihren kleinen Sohn in die gesellschaftlich untragbare Liaison mit Vronszkij hinein katapultiert, aber dann doch unzufrieden und verzweifelt über ihre Situation ist – und als einzigen Ausweg den Freitod sieht.

Iurii Kekalo debütiert als Karenin: mit steifer Haltung nach außen hin die Würde wahrend, erlaubt er sich in der Szene, als er auf Annas Heimkehr wartet, seine mühsam aufrecht gehaltene Contenance fallen zu lassen und in tiefe Verzweiflung auszubrechen – sehr berührend. Als sein Gegenspieler gefällt Zoltán Oláh, wie er zunächst mit schneidigem Offiziersgehabe als Frauenschwarm und heißer Liebhaber punktet, letztlich aber aus der für ihn unangenehmen angespannten Situation seiner Beziehung mit Anna flieht, anstatt zu ihr zu stehen.

Lili Felméry zeigt als Kitti viel Ausdruck im Wechselbad ihrer Gefühle – für Vronszkij schwärmend, die Unerreichbarkeit seines Interesses akzeptierend, wendet sie sich doch Levin zu, der ihr in wahrer Liebe aufrichtig zugetan ist, was in einem wunderbar poetischen Pas de deux gipfelt. Dmitri Timofeev debütiert als Levin und ist tänzerisch wie darstellerisch sehr präsent.

Als durchgängige symbolische Figur geistert ein schlurfendes gekrümmtes Wesen mit brennender Laterne durch die Szenen, durchläuft gleichsam eine Metamorphose, bis aus dem in Fell gehüllten Muzhik, einem russischen leibeigenen Bauern, der Tod erkennbar wird, der in der vorletzten Szene in einem dramatisch-wilden Auftritt Anna gleichsam fixiert, so dass es für sie kein Entrinnen mehr gibt. Miklós Dávid Kerényi verleiht dem Tod beeindruckend prägnante Kontur.  

Lea Földi (Dolly) und Bajari Levente als ihr Mann Sztyepán sowie Kim Minjung (Debut) als Gräfin Lydia und damit Gouvernante des kleinen Karenin komplettieren die adelige Gesellschaft.

Das Corps de ballet ist mit viel Animo bei den temporeichen russischen wie italienischen Tänzen im Einsatz. András Déri sorgt als Dirigent mit gefühlvoller Umsicht für die musikalische Begleitung des Orchesters. Das Publikum honoriert mit sehr viel Applaus die Künstler der Wiederaufnahme.

Ira Werbowsky  

 

 

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