Stuttgarter Ballett JOHN CRANKO Tanzvisionär
284 Seiten, Henschel-Verlag 2023
Noch im Jahr seines 50. Todestages am 26.Juni hat das Stuttgarter Ballett in Würdigung seines Ruhm-Begründers einen Gesprächs- und Bildband heraus gegeben. Außer der ersten Biographie von John Percival 1985 waren erst in jüngster Zeit der sehr freie, teils fiktive Erzählband „Seelentanz“ von Thomas Aders und der vorläufig nur in englischer Sprache verfasste, sehr ausführliche und von vielen persönlichen Erinnerungen des Autors Ashley Killar getragene Band „The Man and his Choreography“ erschienen.
Nun also ein Blick auf seine Persönlichkeit aus der Sicht der am meisten mit ihm verbunden gewesenen Künstler und Weggefährten (den TänzerInnen und/oder ChoreographInnen Marcia Haydée, Birgit Keil, Ray Barra, Richard Cragun, Egon Madsen, Heinz Clauss, Vladimir Klos, John Neumeier, Jiri Kylian, Peter Wright, Reid Anderson und Jan Stripling; den Ausstattern Jürgen Rose und Dorothée Zippel, der Choreologin Georgette Tsinguirides, dem Förderer Fritz Höver, der Fotografin Gundel Kilian, dem Kritiker Clemens Crisp, dem kurzzeitigen Lebenspartner Dirk Ottenbacher und dem Erben Dieter Gräfe). In Interviews, die hauptsächlich die Tanzjournalistin Angela Reinhardt und ihre ehemaligen Resort-Kolleginnen Petra Olschowski und Julia Lutzeyer (ohne konkret dieses Buch-Projekt im Blick) seit 2006 aufgezeichnet und gesammelt hatten, ist Cranko in aller Offenheit in seinen Wesenszügen beschrieben. In diesen von Liebe und Dankbarkeit getragenen Gesprächen wird Cranko anhand von kurzen Situations-Schilderungen in seinen Wesenszügen wieder so lebendig, dass auch diejenigen, die ihn nicht mehr erlebt haben, meinen ihn ein Stück weit gekannt zu haben. Und selbst die mit seiner Biographie vertrauten Leser erfahren noch einige Dinge, die bislang nach außen hin verschlossen waren.
Zu seinem schon vielfach gerühmten Interesse am Menschen, deren Aufmerksamkeit er mit seinen mehrmals zitierten großen blauen Augen erregte und dadurch schnell Sympathien gewann, passt die Charakterisierung, dass er nicht auf den Tänzer, sondern auf den Menschen im Tänzer choreographiert hat. Deshalb war es ihm auch wichtig, in einer angegliederten Schule eigene Tänzer aufzubauen und zu Stars zu machen.
Desweiteren ist u.a. von der Erarbeitung seiner zahlreichen, das Ballett revolutionierenden Pas de deux als dramaturgischem Ereignis die Rede, von einem Magneten für Persönlichkeiten und von einer Bereicherung des Lebens seiner unmittelbaren Mitmenschen.
Aber auch von den Schattenseiten eines Künstlers, der einsam war und deshalb gemäß seiner Ansicht, dass ein solcher einsam sein muss, von seiner Primaballerina Birgit Keil verlangte, dass sie bei ihren Eltern auszieht. Er litt aber auch darunter, keine dauerhafte feste Partnerverbindung zu haben und konnte deshalb auch sehr eifersüchtig sein. Die Sehnsucht danach drückte sich auch in der gleich zweifachen Anschaffung unterschiedlichster Gegenstände aus. Trotz vieler großer Erfolge und nach außen getragener Selbstsicherheit zweifelte er ständig an sich selbst und fürchtete sich vor schlechten Kritiken.
Fünfzig Jahre nach seinem Tod erfahren wir auch, warum er nicht (was naheliegend erscheint) seine damals wieder in Südafrika lebende Mutter als Erbin der künstlerischen Rechte eingesetzt hatte und diese auf seinen vertrauten Ballettsekretär Dieter Graefe übertrug: er verfügte, dass keine seiner Choreographien in seinem Geburtsland gezeigt werden dürfen, weil er nach einem nie näher zu Sprache gekommenen gesellschaftlichen Vorfall nie wieder dorthin zurück kehren wollte.
Umrahmt sind die lebendigen Interviews von zwei sehr fundierten Beiträgen von Angela Reinhardt: am Beginn unter dem Stichwort Vermächtnis eine Schilderung der Auswirkungen Crankos auf die Ballettwelt, die Tänzer und das Publikum; am Ende eine Kurzbiographie mit wesentlichen Stationen des Universalkünstlers, der laut Marcia Haydée am Höhepunkt seiner Karriere starb und durch seinen viel zu frühen Tod noch berühmter wurde.
Ergänzt wird der lohnende Band nebst einem chronologischen Werk-Verzeichnis durch fast ausschließlich erstmals veröffentlichte Schwarzweiß-Aufnahmen (wenige verfügbare Motive in Farbe kamen von privater Seite), die Cranko hauptsächlich außerhalb der Bühne im Ballettsaal, bei Feiern oder auch im privaten Rahmen zeigen und uns die Singularität seines Wesens vor Augen führen.
Aufgrund seiner internationalen Reputation und seiner von Tänzern und Publikum gleichermaßen geliebten und geschätzten großen Werke ist auch eine Veröffentlichung in englischer Sprache dringend zu empfehlen, um einen ganz sicher vorhandenen größeren Markt zu erschließen zu können.
Udo Klebes