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BUCH: Esther Girsberger und Irene Forster (Hrsg.): ZIVILSTAND MUSIKER – ALEXANDER SCHAICHET UND DAS ERSTE KAMMERORCHESTER DER SCHWEIZ

29.06.2020 | buch

BUCH: Esther Girsberger und Irene Forster (Hrsg.): ZIVILSTAND MUSIKER – ALEXANDER SCHAICHET UND DAS ERSTE KAMMERORCHESTER DER SCHWEIZ

Buch: Zivilstand Musiker - | Kategorie: Philosophie und Religion ...

Esther Girsberger, Irene Forster: Zivilstand Musiker. Hier und Jetzt, Baden 2020. 211 S., ca. 39 Fr.

 Esther Girsberger, Journalistin und Publizistin, und Alexander Schaichets Enkelin Irene Forster haben beim Verlag Hier und Jetzt zu Ehren von Alexander Schaichet (1887-1964) und seinem 1920 gegründeten ersten Kammerorchester der Schweiz ein Buch herausgegeben. In sechs Aufsätzen behandeln die Autoren die historischen, kulturellen und musikästhetischen Zusammenhänge der Zeit Alexander Schaichets und zeichnen das Bild einer höchst faszinierenden Persönlichkeit, der heute, wie das Buch glänzend zeigt, völlig zu Unrecht vergessen ist.

 Christoph Wehrli, Historiker und Journalist, zeigt mit seinem Aufsatz „Krisen und Dynamik der jungen Grossstadt – Zürich in den frühen 1920er-Jahren“ in welcher Stadt Schaichet bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs „hängen blieb“. 1914 war Zürich als Grossstadt erst wenige Jahre alt: Die erste Eingemeindung war 1893 erfolgt, die zweite sollte dann 1934 kommen. Die Stadt Zürich war seither das Gegenteil der restlichen Schweiz. Zu Beginn des Krieges betrug der Ausländeranteil 30%, in der Schweiz waren es 15 %. Zürich, von den Gegnern der Eingemeindung als Neu-Babylon oder Klein London gebrandmarkt, war der Ort der technischen und gesellschaftlichen Modernisierung und Brennpunkt der sozialen und weltanschaulichen Gegensätze. Die Quote der Zu-und Wegzüge ging bis 20%. Im Gegensatz zur übrigen Schweiz war die neu gegründete Bauernpartei (aus der später die heutige SVP hervorging) nicht präsent und es gab auch sonst keine konservative Kraft. Vier von neun Mitgliedern des Stadtrates waren Sozialdemokraten. Das Zürich von 1920 hatte aber auch andere Seiten: Es herrschte grosse Wohnungsnot und Sozialpolitik beschränkte sich bis Mitte der 1920er Jahre auf den Betrieb von Jugend- und Altersheimen. Der Landesstreik von 1918 hatte die nach dem Ersten Weltkrieg aufgekommene Hoffnung auf Frieden gedämpft und das Gefühl der unsicheren Zukunft verstärkt. Der seit Beginn des Jahrhunderts bestehende Überfremdungs-Diskurs gewann eine Eigendynamik, so dass noch während des Kriegs 1917 die Fremdenpolizei gegründet wurde. Xenophobe Tendenzen standen im Widerspruch zur unheimlichen Dichte an Literaten, Künstlern und Musikern, die noch vor kurzem Zürich belebte wie auch dem Einsatz der Bevölkerung für die Kultur: so stimmte die Bevölkerung im September 1918, in einer Zeit geprägt von Not, Krankheit und Streik, der Erhöhung der Beiträge ans Stadttheater zu.

Verena Naegele, Historikerin und Publizistin, zeichnet in ihrem Aufsatz „Eine Pioniertat mit weitreichenden Folgen – Die wechselhafte Geschichte des Kammerorchesters Zürich 1920–1943“ die Geschichte des Kammerorchesters Zürich detailliert nach. Die Geschichte des Kammerorchesters begann mit der Konstituierung als Verein am 25. September 1920. Konzerte fanden schon vorher statt und vorher hatte Schaichet, ganz seiner pädagogischen Ader entsprechend, schon das Kinderorchester Zürich gegründet (15. Februar 1917). Nach dem Orchestre des Concerts Golschmann Paris (gegründet 1919), war das Kammerorchester Zürich erst das zweite institutionalisierte Orchester, das sich der Kammerorchesterliteratur verschrieb und das erste, das den Namen der neuen Gattung auch im Namen führte. Dank der Tatkraft Schaichets , der Unterstützung durch Mäzenen wie Hermann Reiff, damals der Tonhalle-Gesellschaft Zürich und dem Winterthurer Industriellen Werner Reinhart und der klaren Konzeption des neuen Orchesters mit seiner Fokussierung auf alte und neue Musik, also Musik abseits des spätromantischen Klangideals und Repertoires konnte das junge Orchester enorme Wirkung entfalten und Gründungen wie das Basler Kammerorchester Paul Sachers (1926) oder das Collegium Musicum Zürich (1941 initiiert von Paul Sacher) beeinflussen. Das Kammerorchester Zürich war in die Neuproduktion zeitgenössischer Musik eingebunden und essentiell am Aufschwung der Gattung beteiligt. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten waren die Mittel so spürbar eingeschränkt, dass man sich, unter Berücksichtigung der geringen Begeisterung des Zürcher Publikums für Neue Musik, mehr und mehr der Alten und der Schweizer Musik zuwandte. Zwischen 1933 und 1939, noch bevor es den Begriff der „Geistigen Landesverteidigung“ gab, führte das Kammerorchester nicht weniger als 39 Werke einheimischer Komponisten zum ersten Mal auf. Der Kriegsausbruch und der Tod Hermann Reiffs brachten weitere Einschränkungen. Der Todesstoss aber war die Gründung des Collegium Musicum Zürich durch Paul Sacher im Dezember 1941. Das letzte Konzert fand im April 1943 statt.

Im Aufsatz „Vom Schriftenlosen zur prägenden Figur des Zürcher Kulturlebens – Ein Porträt“ spürt Michael Eidenbenz der Biographie Alexander Schaichets nach. Schaichets Biographie ist eine, wie sie für viele Juden aus dem Osten Europas typisch ist, geboren in Nikolajew/Russland, aufgewachsen in Odessa, Studium in Leipzig, erste Stelle in Jena, und eine, wie sie für viele Schweizer Immigranten typisch ist, die nur wenige Jahre nachdem ihnen Unfähigkeit zur Integration konstatiert wird zu tragenden Säulen des hiesigen gesellschaftlichen Lebens werden. Das ewige Problem der Immigration, der Widerstreit zwischen Bewahrung und Aufgabe der eigenen kulturellen Wurzeln wird auch Schaichet sein Leben lang begleiten. Schaichet wurde am 23. Juni 1887 in Mykolajiw (Nikolajew) geboren. Kurz bevor seine Mutter im Jahre 1900 starb kam er zu einer Tante nach Odessa, dass er 1906 in Richtung Westeuropa verliess. In Odessa besuchte Schaichet die Musikakademie der Kaiserlich Russischen Musikgesellschaft, ein Gymnasium mit anspruchsvollem Instrumentalunterricht für begabte Kinder. Hier kam Schaichet zu seinem ersten Lehrer Alexander Fiedemann und wurde hier direkt in eine Schüler-Meister-Genealogie eingebunden, wie sie für viele Musiker bis in unsere Tage so bedeutend ist. Für den verwaisten Schaichet hat sie wohl auch eine familiäre Komponente und bedeutete Geborgensein in einem wohlbekannten kulturellen System. Der Wahl von Leipzig als zukünftigem Studienort lag die Empfehlung seines Lehrers Fiedemann zugrunde. Nach dem Abschluss des Studiums wurde Schaichet dann nach Jena berufen, wo er sich rasch etablierte: er war ein erfolgreicher Professor und weitherum geschätzt. Dann aber kam der 28. Juli 1914 und Schaichet, der in den Schweizer Bergen ein paar einträgliche Konzerte geben wollte, musste für immer dort bleiben. Nach einem Intermezzo in Zürcher Cafés schaffte Schaichet den Sprung ans Konservatorium Berr und begann wieder solistisch und organisatorisch tätig zu werden. In der gleichen Pension wie Schaichet wohnte die junge ungarische Pianistin Irma Löwinger, die am Konservatorium Berr in der Klavierklasse von Ferruccio Busoni studierte: Am 15. Juli 1919 wurde mit der Heirat der Grundstein für eine erfolgreiche Ehe und lebenslange einen befruchtend künstlerische Zusammenarbeit gelegt. 1920 lehnte die Fremdenpolizei die Einbürgerung auf Grund mangelnder Integration ab: Konnte man überhaupt ahnen, was der zweimalige totale Verlust des Lebensumfelds bedeutete? Hatte man die Integration ehrlich beurteilt? Schaichet hatte schon 1917 das Kinderstreichorchester gegründet und, angesichts seiner pädagogischen Begabung folgend, 1920 das Kammerorchester als Formation für die „fertigen“ Schüler. Ohne dass Zürich es wusste, wurde Schaichet in den folgenden Jahren zu einer prägenden Figur des Zürcher Kulturlebens. Am 10. Dezember 1927 wurde Schaichet dann die Einbürgerung mitgeteilt und dank der Unterstützung von Gönnern konnte die Familie nun ein Haus am Hadlaubsteig beziehen. Trotz der immer schwieriger werdenden Umstände setzte sich Schaichet weiter für sein Orchester ein. Je mehr die Welt auf den Zweiten Weltkrieg zusteuerte, desto resignativer wurde Schaichet, da er seiner Situation nicht wirklich traute. Es fand sich ein Weg, wie es für Schaichet nach dem „Verlust“ des Kammerorchesters weitergehen konnte: er konnte eine Vakanz an der Musikakademie übernehmen, die er bis wenige Tage vor seinem Tod am 19. August 1964mit der ihm eigenen Begeisterung ausfüllte. Am 21. Juni 1962 überreichte anlässlich eines Konzerts zum 75. Geburtstag Stadtpräsident Emil Landolt dem Jubilaren Alexander Schaichet „für Verdienste um das musikalische Schaffen“ die Hans Georg Nägeli-Medaille. In 42 Jahren war er vom nicht Integrierten zum Preisträger geworden.

Die Unterhaltung Esther Girsbergers mit Schaichets ehemaligen Schülern Rudolf Isler, Charitas Jenny-Ebeling, Silvia Koenig-Koellreuter, Conrad Ulrich, Peter Wettstein und Marianne Widmer trägt den Titel „«Er war auch Psychologe» – Ehemalige Schülerinnen und Schüler erinnern sich“. Hier lässt sich die bereits mehrfach erwähnte pädagogische Begabung Schaichets bestens nacherleben.

„In Klavierstunde – Ein Essay“ erinnert sich Dieter Ulrich mit spürbarer Sympathie und Begeisterung an seine Klavierstunden bei der Witwe Irma Schaichet.

Im Aufsatz „Das Kammerorchester vorgestern, gestern und heute Stationen in der Entwicklungsgeschichte einer Institution“ verlässt Journalist und Musikwissenschaftler Peter Hagmann das Kammerorchester Zürich und spürt den theoretischen und musikästhetischen Zusammenhängen der Zeit nach. Die Kammerorchester im engeren Sinne, also jene Orchester die ihre kleine Besetzung mit einer klaren ästhetischen Ausrichtung verbanden, entstanden und blühten nach dem Ersten Weltkrieg, als Opposition zur spätromantischen Gigantomanie mit 105 und mehr Musikern im Orchester. Die Kammerorchester widmeten sich der alten und der neuen, der nicht mehr gehörten und noch nicht gehörten Musik und setzten der Subjektivität der eigenen Interpretation dabei, wieder im Gegensatz zur spätromantischen Interpretationsästhetik, enge Grenzen. Das Kammerorchester im Speziellen, aber auch viele andere Kammerorchester wurden Opfer der Professionalisierung im Bereich der Musik. Das Kammerorchester Zürich als Laien-Vereinigung litt zunehmend unter dem Mangel finanzieller Mittel und die Zeitumstände nahmen ihm dann das halbe Repertoire (in Form der Neuen Musik). Die Professionalisierung nahm den Kammerorchestern nach dem Zweiten Weltkrieg das Repertoire weg: Ausgehend von der schon 1933 gegründeten Schola Cantorum Basiliensis und dem 1958 entstandenen Concentus Musicus Wien des Nikolaus Harnoncourt verselbständigte sich die Alte Musik bis hinzu zur Entstehung von darauf spezialisierten Orchestern. Wenig später folgte im Bereich der Neuen Musik eine ähnliche Entwicklung. Das 1945 von Edmond de Stoutz als Hausorchester-Vereinigung Zürich gegründete Orchester wurde mit Billigung Alexander Schaichet 1951 in Zürcher Kammerorchester (ZKO) umbenannt. Das ZKO existiert noch heute und hat die schwierige Zeit bewältigt, indem man wie die Gründer aufgebrochen ist und sich ein neues Profil geschaffen hat.

Mit dem vorliegenden Band erfährt Alexander Schaichet die ihm angemessene Würdigung. Sein Kammerorchester ist als Wegbereiter einer neuen Epoche nicht wegzudenken. Die epochale Bedeutung des Kammerorchesters und seines Dirigenten liegt im Erschliessen neuer Werke der Alten Musik, dem Erschliessen zeitgenössischer Musik für das Kammerorchester und dem pädagogischen Talent Schaichets.

Ein in jeder Hinsicht empfehlenswertes Buch!

29.06.2020, Jan Krobot/Zürich

 

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