Auf der Bühne des Brüsseler Théâtre Royal de la Monnaie stürzt Henry VIII Kirche und Frauen ins Verderben!
Foto: Neckermann
Inspiriert von den religiösen Gemälden Tintorettos, dem Meister des schnellen Pinselstrichs, inszeniert Olivier Py mit Henry VIII Camille Saint-Saëns Oper in vier Akten mit sechs Bildern mit symbolischer Wucht. Mit Bühnenbildner Pierre-André Weitz, Meister des dreidimensionalen Raums, greift Py auf ein langjähriges Zusammenspiel zurück und verbindet hintergründige Dramatik mit fulminantem Bühnenmobiliar. Die Ausstattung geht Hand in Hand mit den historischen Paradoxien und kostümgetreuen Zeitsprüngen des 19. Jahrhunderts.
Nicht nur zum Auftakt, sondern im musikalischen Szenenwechsel wirbelt das Ballett mit Leitern und Stühlen auf der mit Schachbrettmuster gepflasterten Bühne des Brüsseler Théâtre Royal de la Monnaie umher. Schachspiel im englischen Königshaus um 1500? Py’s Figuren werden gesetzt, gezogen, geschlagen und aus dem Feld geworfen. Sie sind genauso viele wie in Tintorettos Gemälde und treten – wie das Bühnenbild auch – nach vorne, wenn nötig – oder nach hinten – ins Abseits. Heute Königin und morgen? Der König beherrscht immer das Spiel!
Kostüme in schwarzer und roter Farbgebung symbolisieren die Gier, den Trieb, die Dynamik und Verführung der Macht, die Intrigen am Hof und die religiöse Dominanz, die Henry selbstherrlich – mit dem Volk im Schlepptau – zu Fall bringt – wie seine Geliebten und Ehefrauen. Ob Henry den Größenwahn eines Despoten hoch zu lebendigem Ross auf der Bühne auch noch nötig gehabt hätte, ist fraglich – ebenso den donnernden und spektakulären Durchbruch einer Lok, die dem Publikum den unaufhaltsamen Fortschritt vor Augen führen will. Nun, Henry sorgte damals scheinbar für Freiheit und Fortschritt, genauer gesagt: für seine ihm eigene Freiheit, sich zu nehmen und zu „fallbeilen“, was immer ihm beliebte. Schließlich schwingt sich Henry VIII aufs Ross, klettert die Leiter empor in göttliche Gefilde. Er ist die Kirche und leitet neue Zeitalter ein, während andere verzweifelt am Stuhl dieser Macht sägen. Von der Religion gepeinigte Menschen winden sich nackt aus Tintorettos Gemälde. Das Ballett kommt in dieser plausiblen Szene wieder zum Einsatz – befreit von Stühlen und Leitern und ohne Be- und Verkleidung.
Zugrunde der Oper von Camille Camille Saint-Saëns liegt das Libretto von Pierre-Léonce Détroyat und Paul-Armand Silvestre nach William Shakespeare und Pedro Calderón de la Barcas historischem Drama La cisma de Ingalaterra von 1627. Es erzählt von der turbulenten Herrschaft des englischen Königs (1491-1547), der Scheidung von Katharina von Aragonien und seiner Heirat mit der zweiten von sechs Frauen, Anne Bolena. Diese erliegt der Aussicht auf Macht. Hier brilliert Anna Gubisch als Mezzosopranistin stimmgewaltig: Reine! Reine! Je serais reine! Klingt es aus ihrem königlichen Mund.
Lionel Lhote verkörpert mit seinem Auftritt einen fast unscheinbaren König von England. Er besticht mit seinem markanten und durchdringenden Bariton. Die musikalische Umsetzung des überwältigenden Chores als auch die hinreißende Stimme von Marie-Adeline Henry als Katharina von Aragon und die leidenschaftliche Befeuerung des Orchesters durch den einfühlsamen Dirigenten, Alain Altinoglu, verzaubert. Wohlwissend, dass das Publikum keine Zugabe einfordern kann, klatscht es minutenlang vor Begeisterung.
(Tamara Neckermann für den Online-Merker Wien)