BRNO/Národní divadlo – ALCINA am 19.2.2023
Auf nach Brno!
Letztes Wochenende gab es eine Aufführungsserie der Händel-Oper Alcina am Národní divadlo Brno, dem Janáček Theater, in einer Gemeinschaftsproduktion mit dem Théâtre de Caen sowie dem Château de Versailles. Da die Oper Freitag, Samstag und Sonntag hintereinander gespielt wurde, waren die meisten Rollen für die Aufführungen doppelt besetzt worden, es war also eine Überraschung, welche Sänger ich am Sonntag in einer Nachmittagsvorstellung hören würde. Gleich vorweg: die Aufführung war – um die Beurteilung des Guide Michelin zu verwenden – eine Reise wert.
Die ausgezeichnete Regie mit überzeugender Personenführung ist von Jiří Heřman, das exzellente „set design“ von Dragan Stojčevski. Auf der Homepage des Theaters kann man sich einen Eindruck des magischen Bühnenbilds verschaffen, das zahlreiche Barockelemente aufnimmt, und in wohltuender Weise den Komponisten und sein Werk in den Mittelpunkt stellt. Zunächst sieht man auf der Bühne ein großes Doppelhaus, das entfernt an skandinavische Häuser erinnert – wenn die beiden Hälften auseinandergefahren werden, so sind die Wände große Spiegel, die vor allem in Versailles ganz großartig gewirkt haben müssen. Im Hintergrund sieht man das Meer, aus dem ein geflügeltes Fabelwesen aufsteigt. Das Haus wird immer wieder bewegt, in verschiedener Perspektive gezeigt, teilweise in einzelne Zimmer zerlegt, dann wieder in stilisierte Palasträume verändert, auch der Hintergrund ändert sich. Am Ende der Oper ist Alcina allein im Haus. Dazu kommen barocke Requisiten wie ein Muschelthron samt großem Perlensitz für Alcina und wunderschöne Kostüme (Alexandra Gruskovà), die in der Barockzeit beginnen und im Laufe der Handlung zunehmend schlichter und moderner werden – als Alcinas Zauberkraft verfliegt, nehmen Alcina und Morgana die weißen Perücken ab.
Weil die Oper dankenswerter Weise (und, wie mir gesagt wurde, anders als in Versailles) fast ungestrichen aufgeführt wird, gibt es auch ein sehenswertes (Männer-)Ballett zu der wunderbaren Tanzmusik, die Händel komponiert hat. Alcina sammelt auf ihrer Insel ja die von ihr gefangen gehaltenen und verzauberten Liebhaber, die in verschiedenen Tierkostümen, oder zumindest mit Tierköpfen, auftreten. Ein Balletttänzer tritt als Vogel Strauß auf, in gekrümmter Körperhaltung, sein hochgestreckter Arm und gespitzte Finger bilden erstaunlich echt Hals und Kopf eines Vogel Strauß ab. Publikumsliebling ist ein Pinguin. Und es gibt einen kleinwüchsigen Hilfsgeist der Alcina, eine stumme Rolle, der permanent auftritt, und zu Ende der Vorstellung stürmisch akklamiert wird.
Insgesamt eine magische, heitere Produktion, fröhlicher als jene in Salzburg, dramatisch zwingender als die der Staatsoper (und Welten entfernt von der schwarzen Produktion 2018 im Theater an der Wien).
Pure Freude auch die musikalische Seite – Barockmusik erlebt seit Jahren eine immer größere Nachfrage, es gibt mittlerweile eine erstaunliche Anzahl von ausgezeichneten spezialisierten Orchestern, wo immer man hinkommt. In die Reihe der sehr hörenswerten Orchestern reiht sich auch das das Collegium 1704 ein, das 2005 vom Dirigenten Václav Luks (der auch die Alcina dirigiert hat) gegründet wurde. Bei den Salzburger Festspeielen ist dieses ausgezeichnete Orchester schon zu hören gewesen, ebenso am Theater an der Wien. Auch der Chor Collegium Vocale 1704 wurde von Luks gegründet, und zeigt hohe Qualität.
Das Collegium 1704 spielt vom ersten Moment an intonationssicher und muss sich nicht erst einspielen, wie es bei vielen Originalklangorchestern immer wieder in den ersten 10 Minuten unangenehm zu hören ist. Wie hervorragend die Orchestermusiker sind, ist nicht zuletzt bei den solistisch begleiteten Arien von Alcina und Morgana zu erleben. Wunderbar die Cellobegleitung von Hana Fleková in der Arie „Credete al mio dolore“ der Morgana, ebenso die Continuo-Gruppe Laute („Arciloutna“)/Theorbe/Harfe und Cembalo. Václav Luks dirigiert sein Orchester mitreißend und sängerfreundlich.
Die Alcina am Sonntag sang Pavla Vykopalová. Meine letzte Alcina war Cecilia Bartoli gewesen, die Latte ist daher für mich sehr hoch gelegen. Pavla Vykopalová ist eine sehr, sehr gute Alcina, sie singt mit höhensicherem, leuchtend klarem Sopran, Piani und Koloraturen gelingen makellos. Dazu ist sie eine bemerkenswert gute Darstellerin, die zutiefst menschlich wirkt – keine böse Hexe, sondern eine schwer verliebte Frau, die zum Schluss von Allen verlassen in das Haus zurückkehrt, in dem man sie zunächst gesehen hat.
Ihr ebenbürtig die junge Sopranistin Doubravka Součková als Morgana, ein ebenfalls technisch ausgezeichneter, leichter, aber gleichzeitig auch durchschlagskräftiger mit wunderbaren PianiSopran, die nicht nur in der Arie „Tornami a vagheggiar“ – einem der schönsten musikalischen Einfälle Händels – wirklich bezaubert, und rollendeckend bildhübsch anzusehen ist.
Der dritte herausragende Sänger ist Kangmin Justin Kim als Ruggiero, der koreanisch-amerikanische Countertenor, der im Theater an der Wien 2019 als Annio in der „Clemenza di Tito“ zu hören war. Ein ausgezeichneter Techniker mit einem sehr hellen und meiner Meinung nach auch für einen Countertenor-skeptische Musikliebhaber sehr klangschönen Sopran singt er die schwierige und mit vielen (sieben) wunderbaren Arien ausgestattete Rolle des jungen Kriegers Ruggiero tadellos. Besonders liegen ihm die ruhigeren, „nachdenklichen“ Arien, allen voran „Verdi prati“. Lediglich in der siebenten, sehr martialischen Arie kam er stimmlich noch an Grenzen. Seine Darstellung ist aber die nachdrücklichste, die ich bisher in allen meinen bisherigen Aufführungen erlebt habe, er übertrifft für mich die Damen, die diese Partie an STOP und Theater an der Wien gesungen haben, und sogar den Salzburger Ruggiero, Phillipe Jaroussky. Hier erlebt man einen ganz jungen Mann, der nach kriegerischen Erfahrungen von einer Frau verzaubert wird, von der er bis zuletzt nicht ganz loskommt.
Die weiteren sehr guten – durchwegs tschechischen – Sänger dieses Abends sind Mezzosopran Václava Krejčí Housková als sehr präsente Bradamante, Tenor Ondřej Koplík als Oronte, der auffallend gute Bariton Roman Hoza in der kleinen Rolle des Melisso und Andrea Široká als Oberto (jener Rolle, mit welcher Alois Mühlbacher als Knabensopran sein vielbeachtetes Staatsoperndebüt gegeben hat).
Standing ovations und langanhaltender Applaus des Publikums nach 4 Stunden 10 Minuten (inklusive zweier Pausen von 20 Minuten) Oper – wenn Händel so gut aufgeführt wird, dann ist auch die Dauer der Oper überhaupt kein Problem für die Zuhörer.
Es gibt noch zwei Aufführungen im März (1.3. und 26.3.). Züge aus Wien fahren praktisch im Stundentakt, für die nächtliche Rückreise kann man auf den Flixbus greifen, der erst um 22.45 Uhr vom Bahnhof wegfährt. Aber Brno ist eine absolut sehenswerte Stadt, wer Zeit hat, sollte den Aufführungsbesuch mit einer (Tages-)Reise (und eventuell der Besichtigung der Villa Tugendhat – Reservierung notwendig) verbinden.
Susanne Kosesnik-Wehrle