Bregenzer Festspiele – TURANDOT (2.August 2016)
Er wolle keinen China-Restaurant-Kitsch für Bühne von „Turandot“ bei den Bregenzer Festspielen, erklärte Regisseur Marco Arturo Marelli vor der heurigen Wiederaufnahme der letztjährigen Erfolgsproduktion in verschiedenen Interviews. Ob ihm das auch so gelungen ist, muss wohl jeder der Zuseher für sich selbst entscheiden. Immerhin bietet das Bühnenspektakel – und ja, um ein solches handelt es sich auf der riesigen Seebühne auch – Anklänge an ein echtes und ein phantasieerdachtes China. Die symbolische Chinesische Mauer erinnert auch irgendwie an einen Drachen, 205 Kopien von Soldaten der berühmten Terrakottaarmee stehen teils vor der Bühne im Wasser und teils auf einem riesigen Gerüst im Bühnenhintergrund, Akrobaten, Feuerkünstler, Schwertkämpfer, Fahnen- und Lampionträger ergänzen die Menschenmassen. Ins Zentrum der Bühne hat der Bühnenbildner Marco Arturo Marelli (wie immer ist der Schweizer das szenische Leadingteam in Personalunion) einen überdimensionierten Zylinder gesetzt und eröffnet damit eine zweite Spielfläche aber auch eine Projektionsfläche für Videoeinspielungen. Nicht fehlen dürfen stilisiert chinesische Boote und – in der Schlussszene – zwei Drachen.
Enorm sind die Kennzahlen für das Bühnenbild und den Raumklang. Die Mauer ist 72 Meter lang und ragt an ihrer höchsten Stelle, einem Teehaus auf einem zinnenbewehrten Turm, knapp 27 Meter über den See. Diese Mauer besteht aus 650 „Steinen“ aus Holz, Putz und Farbe, die ein Stahlgerüst verbergen, und wiegt rund 335 Tonnen. Der Drehzylinder im Bühnenzentrum kann um mehr als 5 Meter gehoben werden und benötigt für 180-Grad-Drehung lediglich 40 Sekunden. In der Mauer sind knapp 60 Lautsprecher versteckt und weitere auf der Bühne, in den Beleuchtungstürmen und in einem Lautsprecherband um die Tribüne, die einen räumlichen Klang ermöglichen. Trotz dieses enormen technischen Aufwandes ist „Turandot“ weniger technikorientiert als viele Produktionen der vorhergehenden Intendanz, die dem Schreiber dieser Zeilen das Gefühl von Technik um der Technik Willen vermittelt haben, weshalb durch lange Jahre ein Besuch der Bregenzer Festspiele entfiel.
Das große Fragezeichen bleibt aber weiterhin jeden Abend das Wetter. Denn von den knapp 7000 Menschen, die auf der Tribüne der Seebühne Platz finden, können bei Schlechtwetter nur rund 1600 in das Festspielhaus übersiedeln. Am gestrigen Abend wurde trotz Regens, der etwa in der Hälfte der Aufführung aufhörte, gespielt.
Diesen 7000 Besuchern muss natürlich auch optisch etwas geboten werden. Das schafft Marco Arturo Marelli in Zusammenarbeit mit seinem Lichtdesigner Davy Cunningham und der Kostümbildnerin Constance Hoffman perfekt. Die zahlreichen Scheinwerfer tauchen die Bühne in ein zum Teil mystisches Licht, in dem die Kostüme wie aus einer anderen Welt wirken. Auch im zweiten Jahr dieser Produktion verfallen die Zuschauer begeistert diesen bunten Bildern.
Trotz der ausgefeilten und für open Air ausgezeichneten Akustik bleibt der Klang immer wieder wenig befriedigend. Es stört weniger, dass das im Festspielhaus sitzende Orchester (sehr gut die Wiener Symphoniker) hinter den Sängern eingespielt wird. Wenig Begeisterung ruft beim Autor die Tatsache hervor, dass die Stimmen teils verfärbt, teils (vor allem in den höheren Lagen und dramatischen Szenen) schrill und scharf klingen. Oder lag das an meinem Platz und fällt auf anderen Sitzen weniger oder nicht auf? Die Beurteilung des stimmlich Gebotenen ist also nur bedingt möglich.
Mlada Khudoley ist eine stimmgewaltige Turandot, der die Regie auch durchaus sportliche Leistungen abverlangt; Guanqun Yu (Liu) würde ich gerne auf einer „echten“ Bühne erleben und ihre warme Stimme in einem Theater hören; Rafael Rojas gibt einen höhensicheren Calaf (darüber, dass er als Puccini-Verschnitt kostümiert ist, kann man geteilter Meinung sein); Gianluca Buratto ist ein stimmgewaltiger Timur. Das Ministerterzett ist mit Mattia Oliveri, Peter Marsh und Martin Fournier mehr als ordentlich besetzt, Yasushi Hirano singt den Mandarin auch in luftiger Höhe überzeugend; als Altoum komplettiert Manuel von Senden das Solistenensemble. Der ausgezeichnete Prager Philharmonische Chor wird durch den Bregenzer Festspielchor und den Kinderchor der Musikmittelschule Bregenz-Stadt ergänzt. Bewundernswert ist die musikalische Leitung von Paolo Carignani, der im Festspiel zwar Chor und Orchester vor sich hat, die Sänger auf der Bühne aber nur via Monitor sehen kann, wie auch diese den Dirigenten lediglich über zahlreiche, oft weit von der Bühne entfernte Monitore sehen.
PS: Das Programm bietet seitenweise Werbung der Sponsoren und durchaus Informatives über die Bühnentechnik, für die Sängerbiographien wird jedoch auf die Homepage der Festspiele verwiesen.
Michael Koling