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BREGENZ/ Seebühne: DER FEISCHÜTZ. Stölzls trashy Persiflage auf Webers Freischütz 

29.07.2024 | Oper in Österreich

BREGENZ / SEEBÜHNE: DER FREISCHÜTZ; 28.7.2024

Stölzls trashy Persiflage auf Webers Freischütz 

freu
Schlussvorhang. Foto: Waltenberger

Was ist es? Populäres Spektakel, Schauspiel mit Musik, Illusionstheater vor einer halluzinierend schönen Berg-See-Naturkulisse bei raffiniert verstärkter Musik auf technisch neuestem Stand? Oder doch Oper? Wir erkennen ästhetische Anleihen aus dem Kino, der Popkultur, wir sehen Stunts, eine Untoten-Statisterie, gespenstisch komische Visionen in winterlichem Ambiente, pritschelnde Wasser- und showreißerische Lichteffekte. Im Publikum bleibt manch Mund weit offen stehen. Das und noch mehr ist Bregenz in diesem Sommer, wo es der im langjährigen Vergleich um über einen Meter höhere Pegelstand des Bodensees ruhigen Gewissens erlaubt, rund 500.000 Liter Seewasser für einen 1400 m2 großen Tümpel abzuschöpfen und das Publikum noch näher ans Geschehen heranzurücken als gewöhnlich. 

Regisseur Philipp Stölzl hat sich den „Freischütz“ von Carl Maria von Weber gewünscht und dafür gebührt ihm Dank. Einmal aus dem ewigen Hitreigen von Tosca, Aida, La Traviata, Carmen, Turandot, Butterfly und sonst Massentauglichem, die die Steinbrüche und Open Air Arenas dieser Welt allsommerlich bevölkern, auszuscheren und eine frühromantische Schaueroper zu programmieren, zeugt von Mut, Gestaltungswillen und Erfindungsgabe. Bei letzterer lässt er sich bühnenbildlich von Tim Burton, Harry Potter & Co, inszenatorisch von der prall gefüllten Wunderkammer der (Puppen)Theater- und Trickfilmgeschichte, der Shows, Musicals und kindertauglichen Gspensterbilderbücher beflügeln, und was den Unterhaltungswert anlangt, von den immer surrealer werdenden Fantasy-Filmen wie „Wendell & Wild“ auf Netflix.

Im Freischütz geht es um den Einbruch des Übernatürlichen, der dunklen Mächte in eine bürgerlich erstarrte ländliche Gesellschaft, in der der Wert des Individuums auch als Privatperson sich an bestimmten Regeln in einem streng genormten Leistungsvollzug misst. Die Moral von der Geschichte: Entweder du kannst schießen oder du kriegst die Braut nicht. Was für ein Gleichnis! Und was für ein Pech für Max, weil er eben den Probeschuss verhaut und Agathe nur bekommt, wenn er mit dem Teufel (=Samiel) einen Pakt um sogenannte Freikugeln, die todsicher treffen, eingeht. Im Freischütz wird aber auch um Macht gerittert, es werden katholische Männerbündlereien zelebriert, generell Macheloikes getrieben, um das zu erreichen, was Erfolg verspricht, und sei es mit exorbitant hohem Preis zu bezahlen. Conclusio: Die hauchdünne Schicht der Fairness und der Zivilisation spür- und erlebbar zu machen, scheint mir heute noch genau so aktuell zu sein wie eh und je. 

Einen verführerischen Höllenbuben als Spielvogt zu installieren, ist keine abwegige Idee. Die alten, hanebüchenen gesprochenen Texte erzählungsstringent zu redigieren, macht genauso Sinn, vor allem wenn es so gekonnt geschieht wie das Jan Dvorak getan hat. Samiels Verse sind eigentlich der große Hit der ganzen Geschichte, zumal wenn sie so triefend schwefelig in Szene gesetzt werden wie von Moritz von Treuenfels an diesem Abend. Dafür erhält er und gebührt ihm auch der größte Applaus des Abends. Stölzl dröselt die Geschichte vom Schluss her auf, nur dass Samuel am Ende nach Publikumsbefragung zum Schluss kommt, ein „Happy End“ wäre auch eine Möglichkeit.  Natürlich gibt es in Bregenz Sachzwänge wie die beschränkte Spieldauer von ca. 2 Stunden (begonnen wird um 21h15, es wird immer ohne Pause gespielt – denn wie will man 6.700 Gäste logistisch in 20 Minuten mit Trank und Speise versorgen und dann wieder zeitgerecht auf die Plätze bugsieren?), die zur Folge haben, dass ca. eine halbe Stunde an Musik wegfällt. 

Bregenz ist auch ein Ort der Technik. Das betrifft die Bühne und deren Möglichkeiten, 86 bewegliche LED Scheinwerfer sind im Einsatz. Aber vor allem die atemberaubende Klangmaschinerie mit 29 Lautsprechern auf drei Ebenen, 270 Lautsprechern unter den Sitzen der Tribünenmitte, 76 Lautsprechern in der Bühne und 60 Mikrofonen, weitere 27 für Solisten und Musiker, begeistert vorbehaltlos. Wie naturgetreu die im Festspielhaus platzierten Wiener Symphoniker und der großartige Bregenzer Festspielchor in Bestform da klingen, das ist ereignishaft. Zumal die deutsch japanische Dirigentin Erina Yashima, Eisler Absolventin, Assistentin von Yannick Nézet-Séguin beim Philadelphia Orchestra, Erste Kapellmeisterin der Komischen Oper Berlin, einen ganz tollen Job macht. Da wird dem Freischütz jede Behäbigkeit genommen, die Musik glitzert und funkelt in flottem Lauf, dräut unheimlich und düster bis zum apotheotisch irren Ende. 

Stölzl stopft in die mittelalterlich anmutende Bühnenlandschaft rund um ein verfluchtes Dorf mit windzerzausten Häusern, Mühle, einem halbversunkenen Kirchturm in einer karg winterlichen Kälte freudvoll alles, wirklich alles, was da schunkelt, pritschelt, brennt, dampft oder feuerspeit. Nach eigenen Worten will er „das ganze Füllhorn des Theaters“ bemühen. Klar und nachvollziehbar soll es ein, modern, aber dennoch märchenhaft. Die Produktion geriert sich nicht intellektuell verschroben und noch weniger politisch, sie ist sein Statement für eine schräge Comedy, am Ende gar für persiflierenden Trash. Da hat sich ein großes Kind einen Traum erfüllt. Und trifft so den Nerv eines heterogenen, zum Großteil Nichtopern-Publikums, das sich vielleicht genau das im sommerlichen Urlaub als I-Tüpfelchen wünscht. Da geht es nicht um Werktreue, sondern um das Verschmelzen des beinahe völlig neu erdachten Plots im romantisch schaurig-schönen Bühnengeschehen mit dem Publikum. Als solches Angebot ist das actionreiche Spektakel konzipiert und mit den durch Licht und Hydraulik sich stetig metamorphosierenden Bühnenbildern – vor allem in der Wolfsschluchtszene mit all den Zombies und dem Wilden Heer spektakulär – auch wohlgelungen. Dass da mit der glühenden Axt in Textbuch und Handlung eingegriffen wurde und mit Stölzl bisweilen die Rösser der Fantasie durchgegangen sind, steht auf der Sollseite der Produktion. Beispiele der Verfremdung: Samuel als dauerquasselnder Kasperlhalunke und komödiantischer Moderator, Agathe als Schwangere, die mit Ännchen überlegt, in die Schweiz abzuhauen. Das Wasserballett zu Ännchens erster Arie (die zweite fiel einem Strich zu Opfer) artet mit hinzukomponiertem Nixenchor endgültig zum süßlichen Revuekitsch á la Esther Jane Williams aus. Der Schluss mit einem Fürsten Ottokar als König Ludwig von Bayern Verschnitt, dem Eremiten im Glitterfummel als quasi von der Christbaumspitze herabgestiegener Rauschgoldengel, der sich natürlich als verkleideter Samiel entpuppt, der Mond als heiliger Geist (Taube im Sonnenstrahlkranz) und Kilian mit dem Erbförster Cancan tanzend, das ist so dick aufgetragen, dass es dicker nicht mehr geht. 

Die bis auf zwei Ausnahmen (Max, Kilian) rein deutsche Besetzung ist an diesem Sonntag eine in beinahe allen Partien andere als bei der Premiere und erlaubt so manch beglückende Begegnung. Vor allem die Sopranistin Mandy Fredrich, 2017 noch Königin der Nacht, jetzt 10 mal als Agathe angesetzt (im Berliner Tcherniakov Ring unter Thielemann sang sie die Gutrune, sonst steht viel Mozart von der Donna Anna über die Contessa bis zur Fiordiligi auf dem Kalender) bot eine Edelleistung an lyrisch verinnerlichtem Gesang. Aber auch das resolute Ännchen mit Glockenton der spielfreudigen Hanna Herfurtner, die sonst ihre Vorlieben für alte und zeitgenösssiche Musik pflegt, gefiel außerordentlich. Von den Männern wären in erster Linie der junge Augsburger Bariton Johannes Kammler als stimmgewaltiger und höhensicherer Ottokar, der samtige Bassbariton des Raimund Nolte, vom Timbre fast zu schön für den Erbförster Kuno, sowie Andreas Wolf als Eremit zu nennen. Philippe Spiegel als erotischer Bauernlümmel Kilian kann rein sprachlich seine Herkunft aus Tirol nicht verleugnen. Der aus Bayern stammende Bassbariton David Steffens ist ein hell klingender, in den Läufen sehr beweglicher, aber wenig dämonischer Kaspar, und der Parsifal- und Lohengrin geeichte Schweizer Rolf Romei, Ensemble Mitglied am Theater Basel, ein stimmtechnisch sicherer, bisweilen heldischer, aber jeglichen Stimmschmelz vermissen lassender Max. Als Brautjungfern führten Teresa Gauß und Sarah Schmiedbauer vor, dass man auch mit wenigen Noten Einruck schinden kann. 

Da nicht nur der Text geändert wurde, sondern auch die Noten, vor allem was eine hinzu geschriebene Continuogruppe anlangt, möchte ich die Cembalospielerin Anja Marchwinska, den Kontrabassisten Daniel Schober und den Akkordeonspieler Atanas Dinovski final vor den Vorhang bitten. 

Sonstige Beobachtungen eines auslandsösterreichischen Wahlberliners in Vorarlberg: Nach acht Stunden am angeblich stauintensivsten Sommerwochenende – ich habe am Samstag während der langen Autofahrt keinen Stau bemerkt –  im grünen Hard angekommen (ist das Vorarlberger Pendant zu Anif bei Salzburg), ist das Erste der Sprung in den See. Da schwimmt man den schönen Kirchturm vor der Nase seine Längen und träumt sich der Hitze wegen in die Berge. Die lassen nicht auf sich warten, denn nach einem wettermäßig durchwachsenen Sonntag, der Abend auf der Seebühne, Wettergott sei Dank, bleibt regenfrei, soll es am Montag nach Brand und weiter mit der Bergbahn zum Lünersee gehen, einem Stausee auf beinahe 2000 Metern Höhe. Da hat ganz die Natur das Sagen.

In unserer Unterkunft in Hard empfängt uns Schäfchenblöken im nachbarlichen Garten, ein Junges hat wohl Dauerhunger und macht darauf aufmerksam. Wie sehr hätte dieses Ambiente wohl dem Tiernarren Carl Maria von Weber gefallen, der Hund, Katz, Vögel und sogar den Affen Schnuff als Haustiere ins Herz geschlossen hat.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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