BREGENZ / FESTSPIELHAUS: TANCREDI; 29.7.2024
Regisseur Jan Philipp Gloger ruft statt mittelalterlichem Kreuzritter-Sarazenen Gefetze dumbe Drogenbosse auf den Plan, Tancredi und Amenaide verbindet eine lesbische Liebe
Foto: © Bregenzer Festspiele / Karl Forster
Wo es den ganz großen Reibach mit dubiosen Geschäften aller Art zu machen gibt, da sind in unserer Welt rivalisierende Clans nicht weit. Jan Philipp Gloger, Schauspieldirektor am Staatstheater Nürnberg und ab 2025 künstlerischer Direktor des Wiener Volkstheaters, interessiert an der Gattung Oper besonders, spannende Geschichten zu erzählen, die Identifikationspotential für das heutige Publikum haben. Am besten ist es wie bei Tarantino, wo handfeste Grausamkeit mit der aus der unfreiwilligen Lächerlichkeit von eitlen Muskelmachos dampfenden Komik zu einem giftgrün-süßen Cocktail geschüttelt wird.
In der erste Opera seria von Gioacchino Rossini, Tancredi, treten eigentlich Kreuzritter gegen Sarazenen an, wobei eine junge Frau via Zwangsheirat die Friedenskröte der nunmehr einen anderen gemeinsamen Feind ausmachenden Clans fressen soll. Amenaide ist aber schon anderweitig vergeben. Und zwar an Tancredi, der in Glogers Imagination als von einer Frau gesungen nicht mehr in eine Hose schlüpfen muss, also als Frau einen Mann verkörpert, sondern Frau sein darf. Also haben wir es mit einer queeren Liebesgeschichte zwischen Tancredi und dem Gangstersprössling Amenaide iin einem von Gewalt, Katholizismus und Testosteron geprägten sozialen Setting zu tun. Gloger interessiert die Frage: „Wie gehen wir mit der Vielfalt der Menschen in unserer Gesellschaft um – und sind wir wirklich so weit weg von diesen grobschlächtig und heißblütig agierenden, in ihren eigenen Machtstrukturen gefangenen Menschen ?“ Ein Blick in die Medien genügt, um die Frage mit einem klaren Nein beantworten zu können.
Aber für das Ziel der Öffnung des Werks und der Dringlichkeit des Sujets muss nicht das Thema Homosexualität bemüht werden. Denn der Grundkonflikt des Stücks mit Amenaide als Zentrum aller auf sie zentrierten psychologischen Fäden liegt darin, dass eine Verbindung zweier Menschen an den eigenen Plänen der beteiligten Familien scheitert. Zweitens fällt ins Gewicht, dass es Amenaide in der Figur des „Helden“ Tancredi mit einem nicht vertrauenden, eifersüchtigen, ja ans Paranoide grenzenden Vis-á-vis zu tun hat. Dabei ist es egal, auf welche geschlechtlichen Präferenzen eine Beziehung aufbaut. Denn ein misstrauischer Partner, eine wahnhafte Partnerin versaut Dir das Leben, Liebe bzw. Neigung hin oder her.
Abgesehen davon war ich natürlich neugierig, wie überzeugend die Umsetzung von Glogers Konzept auf der Bühne ist? Ist Gloger ein schlüssiger Erzählstrang und daraus abgeleitet eine in sich fundierte Personenregie gelungen? Leider nein. Entweder es wird mit dem Vorschlaghammer das Thema „gay“ – auf Pappdeckel geschmiert – ins Stück geholt, die Stunt Factory mit ballettartigen Kampfszenen bemüht, mit Pistolen gefuchtelt, Stoff-Teddybären mit Koks gefüllt oder es passiert in statischer Erstarrung einfach gar nichts. Wobei das südamerikanische Drogenmilieu & Co in zahlreichen Serien wie Breaking Bad, Narcos, Snowfall, White Lines, How to selling Drugs online oder Griselda so intensiv und lebensecht in allen Facetten und Grauslichkeiten ausgebreitet wurde, dass sich die angedeuteten Prügeleien auf der Bühne dagegen recht putzig ausnehmen. Dabei imitiert das Bühnenbild von Ben Baur einen durchaus interessanten exotischen Realismus einer Villa mit dem Zimmer Amenaides, Küche, Brunnen, Depot und Fitnessecke nach, die mittels Drehbühne ihren Standort und Perspektive wechseln können.
Foto: © Bregenzer Festspiele / Karl Forster
Gespielt wird das melodramma eroico in zwei Akten Tancredi aus dem Jahr 1813 in der Ferrara-Fassung. Die Besetzung mit dem Rossini-tenoralen, gesangtechnischen top-Könner Antonino Siragusa als Argirio, Andreas Wolf als fiesen Heiratskandidaten und Clanchef Orbazzano, Laura Polverelli als witzige wie gluckenhafte Isaura, ihres Zeichens Amenaides Mama, und Ilia Skvirskii als Ruggiero ist gediegen und gut gecastet. Der Star des Abends ist Mélissa Petit in der Rolle der Amenaide. Sie verfügt über einen in allen Lagen ausgeglichenen lyrischen Koloratursopran der Sonderklasse, wo Stimmfülle, das bernsteinfarben leuchtende Timbre sowie inneres Engagement zu einer vokalen Spitzeninterpretation beitragen. Die Kontraaltistin Anna Goryachova als Tancredi harmoniert in den Duetten unglaublich gut mit Mélissa Petit und vermag in den Höhen die Stimme imponierend aufzumachen. In der Tiefe und der unteren Mittellage bleibt sie das bestimmte Quentchen an Volumen, an Expansionsfähigkeit schuldig, um aus eine sehr guten Leistung eine atemberaubende zu machen.
Die musikalische Leitung lag in den Händen von Yi-Chen Lin. Um atmosphärische Kontraste bemüht, gelangen ihr mit den Wiener Symphonikern vor allem die flotten Tempi, das Rossinische Brio perlte comme il faut. in den lyrischeren Teilen der Partitur dehnte sie das Zeitmaß bisweilen so sehr, dass die Spannung dabei Flöten ging. Vor allem im ersten Akt gab es so manchen Leerlauf zu vermelden.
Tancredi stirbt am Ende, das SEK provozierend, im Kugelhagel, nicht ohne zuvor auf ein Stück Leintuch das doppelte Venussymbol gesprüht zu haben. Damit auch alle wirklich wissen, was sich der Regisseur als Quintessenz des Stücks gedacht hat. Um die zunehmende Gefährdung und Marginalisierung sexueller Minderheiten zu thematisieren, muss man nicht bis nach Südamerika gehen und an die dortige Drogenmafia denken.
Dr. Ingobert Waltenberger