BREGENZ / Festspielhaus: SIBIRIEN – Premiere
- Juli 2022
Von Manfred A. Schmid
Ambur Braid, Scott Hendricks. Foto: Karl Forstner/ Bregenzer Festspiele
Giordanos Oper als Beiwagerl zu Puccinis Madama Butterfly
Am Tag zwei der Bregenzer Festspiele, bei ungetrübtem Sommerwetter, findet – fast schon traditionsgemäß – im Festspielhaus die Aufführung einer nicht so bekannten Oper statt. Eine sinnvolle Programmgestaltung, die dem jeweils ausgewählten Werk die Chance einer Bewährung auf einer heutigen Opernbühne einräumt. Nicht alles, was da präsentiert wird, kann diese Chance auch nützen, vieles verschwindet gleich wieder in der Versenkung. Wirkliche Entdeckungen, die zum Revival einer vergessenen Oper führen und sie wieder – oder überhaupt zum ersten Mal – im Repertoire etablieren, sind die Ausnahme. Meist gibt es Gründe für das Scheitern. In diese Kategorie gehört wohl auch Umberto Giordanos Verismo-Oper Sibiria (Sibirien), die 1903 an der Scala zur Uraufführung kam, weil das eigentlich vorgesehene Werk, die Oper Madama Butterfly, nicht rechtzeitig fertiggestellt worden war. Heuer kommt sie als „Beiwagerl“ zum Puccinis Opern-Evergreen zum Zug, und ein „Beiwagerl“ wird sie auch bleiben. Der Vergleich ist gnadenlos und macht einen sicher.
Da ist in erster Linie der Stoff der Oper zu nennen. Es geht um das Schicksal einer schönen Frau, deren erster Liebhaber sich als Zuhälter entpuppt und sie zu einer Prostituiertenlaufbahn nötigt. Als Stephana sich, inzwischen zur umschwärmten Kurtisane aufgestiegen, in den Leutnant Vassli verliebt und ihren adeligen Gönner verlässt, hofft sie auf ein Familienglück. Doch ihr Mann, vom Gönner provoziert, schlägt diesen nieder und wird zur Zwangsarbeit nach Sibirien geschickt. Sie gibt ihr luxuriöses Leben auf und folgt ihm in die Verbannung, wo beide bei einem Fluchtversuch erschossen werden.
Ambur Braid, Alexander Mikhailov. Copyright: Karl Forstner/ Bregenzer Festspiele
Diese Geschichte kommt einem irgendwie bekannt vor. In der Tat gibt es Ähnliches bei Cilea – Adriana Lecouvreur, und bei Verdi – La Traviata, nur eben mit genialer Musik versehen. Dagegen kann sich die solide, handwerklich gut gemachte Musik Giordanos nicht behaupten, auch wenn es ihr nicht an Originalität mangelt. Denn die Mischung schmachtender italienischer Melodienseligkeit mit russischen Volkweisen bis hin zum Lied der Wolgaschiffer ist ziemlich einzigartig. Aber es gibt in diesem Werk keine Arie, kein Duett, nichts, was Ohrwurmqualität beanspruchen kann. Und die Auslotung der Charaktere schein ihm stets weniger wichtig als die grelle Schilderung der Situation, in der sie sich befinden. Ein Wurf wie mit Andrea Chenier und Fedora ist Giordano mit Sibiria jedenfalls nicht gelungen.
Die Inszenierung durch den jungen russischen Regisseur Vasily Barkhatov versetzt die Handlung nicht in eine andere Zeit, sondern belässt sie im zaristischen Russland um die Jahrhundertwende, was auch durch die Bühne von Christian Schmidt und die Kostüme von Nicol von Gravenitz bestätigt wird. Wohl um ein Abgleiten in allzu Kitschiges und Klischeehaftes zu vermeiden, führt er eine neue Figur ein. Es handelt sich um die Tochter von Stephana und Vassili, die sich als alte Frau, gut 60 Jahre später, auf eine Spurensuche begibt, um mehr über das Schicksal ihrer Eltern in Erfahrung zu bringen und das damalige Geschehen emotional nach- und mitzuempfinden. Die eigens dafür eingespielten Filmaufnahmen dokumentieren dieses Unternehmen und machen die Oper damit zu einer Art musikalischem Roadmovie. Das kann man machen, aber gerade bei einem Werk, das kaum jemand schon einmal gesehen hat, hätte man gerne einen ersten Eindruck von dessen Originalgestalt, bevor man sich auf Bearbeitungen einlassen möchte. Ärgerlich aber werden die Filmchen durch die penetrant immer im Mittelpunkt stehende Urne mit der Asche der Verblichenen. Dieser Regisseur wird bei nächster Gelegenheit vermutlich auch in Goethes Faust I so eine Figur als Reiseleiter einbauen. Ich tippe auf Gretchens Vater.
Valentin Uryupin, dem musikalischen Leiter der Aufführung und ebenfalls aus Russland gebürtig, gelingt es am Pult der Wiener Symphoniker gut, diese merkwürdige musikalische Marriage aus Italianità und russischer Volksseele zum Klingen zu bringen, ohne allzu schwelgerisch zu werden. Doch temperamentvoll und grell wird oft trotzdem. Die Koordination mit dem Prager Philharmonischen Chor, der vor allem bei den russischen Gesängen in der Verbannung zum Einsatz kommt, und mit der Bühnenmusik in Kooperation mit dem Vorarlberger Landeskonservatorium klappt vorzüglich.
Die kanadische Sopranistin Ambur Braid ist der strahlende Mittelpunkt der Aufführung. Ihre kraftvolle, modulationssichere Stimme ist mit einem markanten Vibrato versehen, was bei der Gestaltung der starken emotionalen Herausforderungen, mit denen sich Stephana konfrontiert sieht, von Vorteil ist. Etwas mehr Differenziertheit würde aber nicht schaden.
Alexander Mikhailov als Vassili verfügt über einen soliden lyrischen Tenor, kann sich gegenüber der mächtigen, üppigen Stimme von Braid und ihrer Ausstrahlung aber nicht auf Augenhöhe behaupten.
Einen starken Eindruck hinterlässt hingegen der Amerikaner Scott Hendricks, der als schmieriger, brutal Zuhälter Gleby alle Register seiner darstellerischen Fähigkeiten zieht und an seiner Gefährlichkeit und Gerissenheit keine Zweifel aufkommen lässt und auch stimmlich mit seinem Bariton überzeugt.
Copyright: Karl Forstner/ Bregenzer Festspiele
Ein interessanter Abend, vom Premierenpublikum gebührend gefeiert. Aber das Interesse wird – wieder einmal – nicht von Dauer sein.
Anmerkung: Einen erwähnenswerten Hinweis verdanke ich dem Opernkenner Dr. Wolfgang Habermann, den ich hiermit gerne weitergebe. Von Donizetti gibt es ebenfalls eine äußerst selten gespielte Oper über zwei nach Sibirien Verbannte: Otto Mesi in due ore ossa Gli esiliati in Siberia. Auch Franz Lehars 1905 uraufgeführten Operette Tatjana handelt von einem wegen Raufhandels nach Sibirien zur Zwangsarbeit in einer Goldmine verbannten Mann, dem eine Frau nachfolgt. Beide fallen einem Schneesturm zum Opfer. Während die Operette etwa zeitgleich mit Giordanos Siberia, nämlich 1905 herausgekommen ist, entstand Donizettis Oper allerding schon 1827. Schon damals war Sibirien also als Vorläufer des GULAG-Systems ein Begriff.