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BREGENZ/ Festspiele: NERO von Arrigo Boito. Neuinszenierung –  Eine interessante Ausgrabung, aber eine unfertige Oper

05.08.2021 | Oper in Österreich

BREGENZ/FESTSPIELE: NERO – NI am 2. August 2021

 Eine interessante Ausgrabung, aber eine unfertige Oper

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Copyright: Bregenzer Festspiele/ Karl Forster

Wie immer man auch über diese Ausgrabung des Komponisten, Librettisten, Lyrikers, Bühnendichters und Erzählers Arrigo Boito (1842-1918) urteilen möchte, es war richtig, dass die Bregenzer Festspiele zum 75. Jubiläum seine unvollendete Oper „Nerone“ auf ihr Programm im Festspielhaus gesetzt haben. Kennt man Boito vor allem durch seine Opernlibretti, die von Verdi und Ponchielli vertont wurden, aber auch durch seine eigene großartige Oper „Mefistofele“, so machte „Nerone“ deutlich, dass dem Italiener eine weitaus größere Schaffenskraft eigen war. Nicht nur trug er signifikant zur Verbreitung der Werke Richard Wagners, Carl Maria von Webers und Giacomo Meyerbeers in Italien bei. Er bemühte sich um den Ausgleich zwischen italienischem und deutschem Musiktheater und wurde deshalb in Italien gelegentlich auch als Wagnerianer bezeichnet. Mit der Bewegung der Scapigliatura „Strubbelkopf“ (1860-1880) assoziiert, wurde Boito zu einem der kämpferischsten Mitglieder der Mailänder Dichtergruppe, die sich ein Leben abseits der bürgerlichen Normen vorstellte und auch das bis dahin in der Literatur verpönte Böse, Hässliche und Abstoßende thematisierte. So wird in „Mefistofele“ Faust zur Identifikationsfigur Boitos, weil er den menschlichen Dualismus symbolisiert und „von der Neugierde nach Gut und Böse heimgesucht wird.“ So haben bizarre Bösewicht-Figuren immer Boitos künstlerische Phantasie beflügelt, u.a. in seinem dramatischen Gedicht „Re Orso (1865).

Vor diesem Hintergung ist auch „Nerone“ zu sehen, von dem er nur die ersten vier Akte vertonte. Der fünfte, der den Untergang Neros darstellt, wurde nur geschrieben, und der insgesamt unfertige Charakter, zumal in musikalischer Hinsicht, ist dem Werk auch klar anzumerken. Boito selbst, der immerhin 60 Jahre mit der Oper beschäftigt war, war sich dieser Unfertigkeit bewusst und hatte immer Zweifel gegen eine Aufführung, der dann sein Tod 1918 zuvor kam, als die ersten drei Akte von ihm autorisiert waren. Arturo Toscanini fertigte mit zwei Kollegen eine spielbare Fassung der ersten vier Akte an, komplettierte die Orchestrierung des 4. Akts und brachte das Stück schließlich 1924 an der Mailänder Scala zur Uraufführung.

Auch in „Nerone“ stellt Boito die Unvereinbarkeit von Gut und Böse heraus, und zwar an der dekadenten Welt des römischen Kaiserreiches unter Kaiser Nero und dem aufkommenden Christentum samt seiner Verfolgung durch Rom. Hinzu kommt mit dem Gnostizismus noch eine dritte Sphäre, sodass mit dem Werk auch die Komplexität und Widersprüchlichkeit des damaligen Zeitalters hervorgehoben wird. Nero war dabei nicht nur ein menschenverachtender grausamer Kaiser, dem es um die Machterweiterung Roms und damit seines Einflusses ging. Er war auch künstlerisch interessiert und verband viele seiner Untaten mit einem künstlerischen Hintergrund.

Diese komplexen Strukturen treten auch in der Musik Boitos in „Nerone“ hervor, die an diesem Abend den bemerkenswertesten Teil der ganzen Aufführung darstellte und allein einen so hohen Grad an Konzentration erforderte, dass man dem lebhaften und nicht immer ganz klaren Geschehen auf der Bühne nur bedingt folgen konnte. Zwar immer wieder in ihrem Duktus unterbrochen, ja im Erscheinungsbild brüchig wie das Werk selbst, kommt es zu enormen musikalischen Ausbrüchen, so besonders im Vorspiel zum 4. Akt, und intensiven sowie komplex orchestrierten Klangbildern, die auf die Szenen mit dominant römischer Aktivität einerseits und jene der Christen andererseits gut abgestimmt sind. So kommt in den „heidnischen“ Szenen Chromatik zum Einsatz, während die Szenen der Christen sich in der traditionellen Diatonik bewegen. Boito schwebte ja immer auch eine Form des musikalischen Gesamtkunstwerks vor, das hier nur in Ansätzen erkennbar ist, sich aber Wagner in gewisser Weise annähert. Jedenfalls hat die Musik über lange Strecken kaum italienischen Duktus. Dirk Kaftan brachte die schillernde Partitur mit den Wiener Symphonikern zu eindrucksvollem Leben und setzte so die größten Akzente an diesem interessanten, aber fordernden Abend.

Regisseur Olivier Tambosi stellte das Ganze in ein von Frank Philipp Schlössmann in ständige Rotation und seitliche Bewegung und durch hohe Lichtsäulen gekennzeichnetes abstraktes Bühnenbild, welches in den Szenen mit den Christen, wie deren diatonische Musik, klarer erkennbare Strukturen annimmt, wie etwa einen typisch italienischen Wald aus Zypressen. Hier wird auch die Bühne tiefer ausgespielt, während sich die Szenen um Kaiser Nero überwiegend auf der Vorderbühne, also plakativer abspielen. Die schillernden Kostüme von Gesine Völlm, die einst den Bayreuther „Parsifal“ von Stefan Herheim ausstattete, setzen in der Welt Neros durch Blutspuren klare Zeichen von Gewalt und Mord, während das Kostüm das Christenführers Fanuèl in einem büßerischen Weiß gehalten ist, zu dem er auch noch eine an die Leiden Christi erinnern sollende Dornenkrone trägt. Die christlichen Anhängerinnen sind wie Nonnen dargestellt. Alles bei ihnen strahlt im Licht von Davy Cunningham eine innere Ruhe aus im Gegensatz zu den erratischen und gegen Ende beim Brand Rons grausam zerstörerischen Bildern der Nerone-Welt. Das war zwar alles nicht sofort einsichtig und auch nicht immer stringent, kam aber letztlich dem Charakter dieser Oper entgegen. Ein zweiter Besuch hätte sicher mehr Erkenntnis gebracht.

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Copyright: Bregenzer Festspiele/ Karl Forster

Der Mexikaner Rafael Rochas spielt sehr intensiv und überzeugend einen machtbesessenen Kaiser Nero im Hermelinmantel, den er einmal unerklärlicherweise mit dem Mantel seiner ermordeten Mutter Agrippina tauscht. Im Finale betrachtet er die Zerstörung Roms stoisch eher wie ein Kunstwerk, als dass er von den dort liegenden Leichenbergen beeindruckt wäre. Er kann die Rolle auch stimmlich mit seinem kraftvollen Tor ansprechend ausfüllen. Der bewährte Lucio Gallo ist ein charaktervoll spielender Simon Mago mit klangvollem Bariton. Der Christenführer Fanuèl wird von Brett Polegato mit großer Würde und Andacht verkörpert, zu der sein bestens geführter Bariton manchmal wie Balsam auf die Wunden der Christen klingt. Die russische Sopranistin Svetlana Aksenova singt die in Nero verliebte Asteria mit einem facettenreichen Sopran, der zu Beginn in den Spitzentönen etwas an seine Grenzen stößt. Alessandra Volpe ist hingegen eine christliche Rubria mit glutvollem Mezzo, die das Schicksal ihrer Figur, die auch die Vestalin einschließt, damit sehr glaubhaft macht. In kleineren Rollen treten noch Miklós Sebestyén als Tigellino, Taylan Reinhard als Gobrias, Ilya Kutyukhin als Dositèo, Katrin Wundsam als Cerinto und Pèrside, Hyunduk Kim als Primo Viandante sowie Shira Patchornik als die Voce di donna auf. Der Prager Philharmonische Chor glänzt vor allem in den großen Christen-Szenen. Ein denkwürdiger Abend im Bregenzer Festspielhaus, der trotz aller Problematik des Stücks eine Wiederaufnahme an anderem Ort sinnvoll macht, durchaus auch in dieser Inszenierung.                                               

 Klaus Billand                                                                            

 

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