BRAUNSCHWEIG: GIULIETTA E ROMEO von Riccardo ZANDONAI – Premiere
21.4. 2017 (Werner Häußner)
Die Rezeptionsgeschichte geht schon seltsame Wege. Da traktieren Choreographen landauf landab Prokofjews „Romeo und Julia“, als gäbe es nicht Dutzende attraktiver Handlungsballette. Da kommt Bellinis ätherisch-fragiles Belcanto-Drama über das Veroneser Liebespaar zu neuen Repertoire-Ehren. Und hin und wieder schafft es sogar Charles Gounods leidenschaftlich glühende Version auf die Bühne, zum Beispiel derzeit in Erfurt, Kassel und am Nationaltheater Prag. Doch darüber wird ein Werk vergessen, das musikalisch attraktiv und szenisch geradezu modern anmutet: 1922 wurde Riccardo Zandonais „Giulietta e Romeo“ uraufgeführt, hatte einigen Erfolg, verschwand aber bald nach dem Tod des Komponisten (1944). Eine Aufführung in Neapel, 1986 als Gastspiel bei den Wiesbadener Maifestspielen gezeigt, zeitigte keine Wirkung.
So ist längst fällig, Zandonais Adaption der unsterblichen Liebesgeschichte wieder einmal zur Diskussion zu stellen. Das entdeckerfreudige Staatstheater Braunschweig hat die Reanimation – wie drei Wochen zuvor das Theater Erfurt – angepackt. Der reisende Opernliebhaber kann zwei Inszenierungen vergleichen, bei einer solchen Trouvaille eine seltene Chance. In Erfurt hat Guy Montavon von Leidenschaft und Gewalt geprägte Szenen einer pubertären Liebe entworfen – angesiedelt in einem Internat der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. In Braunschweig knüpft Philipp Kochheim, bald Chef der Dänischen Nationaloper Aarhus, an die Entstehungszeit der Oper mitten im Krieg an und illustriert den Fiebertraum eines im Gefecht schwer verletzten Romeo.
Das kommt der Konstruktion des Stücks entgegen, das sich nicht wie Shakespeares Tragödie erzählt, sondern in drei Akten dramaturgisch kaum verbundene szenische Augenblicke verdichtet. Die Kenntnis der Handlung wird vorausgesetzt; das Libretto stützt sich auf den aus Vicenza stammenden Autor Luigi da Porto. Seine Novelle, um 1524 entstanden, diente auch Shakespeare als Vorlage. Was früher als Schwäche abgewertet wurde, erweist sich heute als Vorzug: Die Offenheit der szenischen Anlage lässt den Raum, den Kochheim mit mehrdeutigen Bildern und symbolischen Andeutungen im Sinne einer Traumlogik füllt. Erst am Ende bricht „Realität“ in die Szene ein: Auf Thomas Grubers Bühne fahren die öden Wände eines Krankenzimmers herab, zwei Krankenschwestern zerren einen Sterbenden auf ein Bett. Nichts mehr zu machen: Die Rotkreuz-Helferin zieht das Laken über den Kopf der Leiche und geht mit dem Arzt hinaus. Ist es Giulietta?
Das Surreale bricht erst allmählich ein. Im ersten Akt zeigt Kochheim eine militärische Stellung: Soldaten hinter einer Wand aus Sandsäcken, versengte Baumruinen, Pulverdampf, MG-Feuer und das Dröhnen explodierender Granaten. Aber ein zerschossenes, zeigerloses Zifferblatt setzt schon ein Indiz gegen ungebrochenen Realismus. Und als eine geheimnisvolle Gestalt, ein Spielmacher, gekleidet wie ein Varieté-Direktor in rotem Samt, mit Überwurf, Zylinder und Zigarettenspitze (Sebastian Matschoß in der Rolle des Banditore) seine Arme als Zeiger einsetzt, bricht die Szene ins Surreale. Ein weißes, hölzernes Karussellpferd, ein Ruderboot, eine Marionette: Beziehungsvoll eingesetzte Ausstattungs-Details lassen schon das erste Duett zwischen Romeo und Giulietta ins Phantastische hinüberwehen – noch bevor Romeo am Ende des ersten Aktes als Opfer eines Einschlags zuckend zu Boden geht.
Für den zweiten Akt dreht sich die Bühne zu einem symbolstarken Bild: Wie eine Wand füllt ein riesiges Regal die Fläche. Nur noch wenige Bücher stehen verloren in den Fächern; die meisten sind herausgefallen oder herausgerissen, liegen auf einem Haufen, der an die Bücherverbrennungen der Nazis 1933 erinnert. Eine einmotorige Propellermaschine hat offenbar die Wand durchbrochen und liegt nun auf dem geschichteten Papier. Die Assoziation zum Propagandaflug Gabriele d’Annunzios 1918 über Wien liegt nahe. Krieg als Angriff auf die Zivilisation, das Flugzeug aber auch als Ort des großen Duetts zwischen Romeo und Giulietta, als Chiffre der Flucht, der Enthobenheit, der existenziellen Unruhe, die Giuliettas schnelle, kleine Fluchten aus dem Bild der Bühne hinaus schon vorher angedeutet haben.
Mit ausgestreckten Armen – wie Kate Winslet und Leonardo di Caprio in „Titanic“ – stehen die beiden jungen Menschen auf dem Flugzeug, das später der dämonische Direktor des surrealen Varietés der Bilder einnehmen wird. Sie singen davon, diese Welt hinter sich zu lassen: „Portami lontano … Salvami tu, amor mio …“ fleht Giulietta „wie ein untröstliches Kind“ – und dieses Duett taucht die Musik in einen visionären Schimmer, der wie ein Echo von „Tristan und Isolde“ anmutet. Die entrückten Szenen aus Zandonais erfolgreichster Oper „Francesca da Rimini“ in ihrem impressionistischen Zauber sind nicht fern, aber auch die raffinierte Klangkoloristik eines Franz Schreker lässt grüßen.
Der dritte Akt ist dann vollends von jeder logischen Verknüpfung gelöst, taucht ein in die hart und fahl beleuchtete bunte Welt einer karnevalesken Phantasmagorie, ein Maskenspiel voller Anspielungen, alptraumhaft verlangsamter Bewegungen, ein unheimliches Kaleidoskop zwischen dämonisch riesenhafter Soldaten-Marionette und unheimlich konkretem Schlächter mit blutbesudelter Schürze (Die phantastischen Kostüme sind von Mathilde Grebot). Eine sinistre Versammlung unwirklicher Gestalten, zwischen denen ein burlesker Sänger den Tod Giuliettas besingt und Romeo mit blutiger Brustwunde seinen existenziellen Schmerz hinausschreit. Der instrumentale „Ritt nach Verona“ wird in Kochheims Inszenierung zur seelischen Explosion und gewinnt in seiner martialischen Brutalität eine über das Äußerliche hinausgehende psychische Konsistenz. Ein überwältigender Kontrast zu den sphärischen Klängen der Glocken und der Celesta und den melancholischen Einwürfen der Laute in den Szenen davor und danach.
Zandonai hat dieser Oper keine eingängige Melodie mitgegeben – das hat sein Zeitgenosse Puccini raffinierter gemacht und damit die populäre Rezeption gesichert. Aber die Komposition bewegt sich auf Augenhöhe mit seinem Lehrer Mascagni – eher dem raffinierten Klangmagier der „Iris“ als dem unverblümten Melodiker der „Cavalleria rusticana“ –, mit Kollegen wie Ponchielli und Catalani und vor allem mit dem Abgott dieser Zeit, Giacomo Puccini. Wer‘s will, hört Debussy und Strauss, wer’s weiß, erkennt die Stränge, die zu Franz Schreker, Max von Schillings und sogar Erich Wolfgang Korngold führen. Von der brutalen Dissonanz, mit der die Oper beginnt, bis zu den ätherisch-impressionistischen Momenten, von zuschlagenden Verismo-Attacken des Blechs bis hin zu raffiniert-eleganten Melodien und harmonisch süffiger Vertiefung belegt die Komposition Zandonais Könnerschaft. Das ist Musik, die europäischen Rang beansprucht.
Florian Ludwig, noch GMD am Theater Hagen, hat durch seine sorgfältige Einstudierung und sein kundiges Dirigat diesen Rang beglaubigt. Anders als in Erfurt, wo Myron Michailidis auf die Überwältigung durch Klang und unmittelbaren Effekt zielte, legt Ludwig frei, wie Zandonai die Musik konzipiert hat, ohne ihr den sinnlichen Glanz zu nehmen. Das Braunschweiger Orchester entfaltet Intensität auch unterhalb der Grenzwerte von Forte und Fortissimo, fasst den Klang linear und schlank, ohne ihm Raffinesse, Parfüm, strahlendes Leuchten oder verhaltene Magie zu nehmen. Die Mixturen sind deutlicher beleuchtet, der Rhythmus erweist sich als einer der tragenden Parameter der Musik. Vor allem die sinnstiftende Phrasierung erweist die Stärke von Ludwigs Dirigat: Die Logik der Musik wird greifbar, wird nicht dem üppigen Rausch und dem gleißenden Blendwerk des Klangs geopfert. Nur den Chor hat Georg Menskes diesmal nicht dazu gebracht, die zaubrischen Klänge von ferne weich und rund zu formen – da blieb Vieles spröde und direkt.
Bei einem auch dynamisch vielfach staffelnden Dirigat sind die Sänger nicht gezwungen, sich auf Dauerforte zu verlegen oder zu forcieren. Dass sie es hin und wieder tun, ist nicht nötig. Raymond Ayers als unversöhnlich gewaltbereiter Tebaldo etwa kann durchaus entspannt singen, schäumt zwar auch hocherregt auf, bringt jedoch mit drohenden Untertönen mehr psychologische Farbe in seine Stimme als durch bloße Lautstärke. Mickael Spadaccini wagt sich mit Romeo in ein Fach, das er bisher vor allem als Mario Cavaradossi gestreift hat, und adelt die herausfordernden Attacken mit einem ungezwungenen Ansatz, leicht geführtem Legato und unverquollenem Ton im Dramatischen; hin und wieder zeigt das Timbre allerdings die leicht rauen Stellen der Anstrengung – Vorsicht also bei weiteren Ausflügen in Richtung Verismo.
Auch bei Tanja Christine Kuhn als Giulietta möchte man vor der darstellerischen wie gesanglichen Leistung vorbehaltlos den Hut ziehen, aber manchmal tendiert die Stimme doch zu sehr in den Kopf, statt sich zuverlässig im Körper zu verankern und sich den blühenden, unangestrengten Ton aus der Tiefe des Atems zu holen. Ekaterina Kudryavtseva ist als ihre Gefährtin Isabella nicht aus der Ruhe eines sonoren Tons zu bringen; Michael Ha legt den angestrengten Ton vor allem in der Höhe ab, als er in der lockeren Canzona des dritten Akts als zwielichtiger Bote vom Tod Giuliettas berichtet.
Fazit: Braunschweig zeigt eine ausgezeichnete Produktion einer Oper, der dringend Präsenz in den Spielplänen zu wünschen wäre. Und lenkt den Blick auf einen Komponisten, der bisher wohl erheblich unterschätzt wurde. Das gilt zum Beispiel auch für seine Oper nach Selma Lagerlöfs „Gösta Berling“ mit dem etwas sperrigen Titel „I Cavalieri di Ekebú“, deren tief beeindruckende Inszenierung beim irischen Wexford Opera Festival vor mittlerweile fast zwanzig Jahren leider auch kein Echo ausgelöst hat.