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BRATISLAVA: „MANON“ in Bratislava. Tanzkunst in der zartesten Pracht

24.03.2024 | Ballett/Performance

Tanzkunst in ihrer zartesten Pracht – “Manon” in Bratislava, am 23.03.2024

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Copyright: Juraj Zilincar/Bratislava)

 Sir Kenneth MacMillan wurde 1970 Direktor des Royal Ballet in London. Kurz zuvor hatte er das Ballett “Anastasia” inszeniert, das bei den Kritikern auf ein gemischtes Echo stieß, und so ging er an die Kreation von “Manon” sieben Jahre nach “Anastasia” etwas vorsichtiger heran. Mit Erfolg, denn “Manon” wurde zu einem herausragenden Beispiel realistischer Choreografie und zu einem Meisterwerk aus MacMillans späterem Schaffen. Interessanterweise hat Jules Massenet selbst ein Ballett “Manon” nie geschrieben – es wurde durch Sir Kenneth aus verschiedenen Werken des Komponisten zusammengestellt. Um so bemerkenswerter ist es, dass diese Zusammenstellung in ein durch und durch homogenes Stück mündete. Die bunt gemischte Partitur des Balletts besteht dabei aus Ausschnitten von elf verschiedenen Opern Massenets, zwei seiner Oratorien, Orchesterwerken, verschiedenen Liedern und Klavierstücken – aber kein einziges Fragment aus Massenets Oper „Manon“ wurde inkludiert. Die Musik für das Ballett wurde schließlich von Leighton Lucas, einem ehemaligen Tänzer der Ballets Russes von Diaghilev, arrangiert. 2011 wurde die Partitur durch den Dirigenten Martin Yates erneut orchestriert und dieser war es, der auch an diesem Abend in Bratislava dirigierte.

 Das Ballett „Manon“ ist die atemberaubende Geschichte einer tragischen Liebe, durchdrungen von den Emotionen und komplexen Gefühlen der Hauptfiguren. In dieser facettenreichen Inszenierung wird der Tanz zu einem Mittel, um tiefe Gefühle auszudrücken, und die Handlung entfaltet sich vor den Augen des Publikums mit erstaunlicher Intensität und emotionaler Kraft. Der Schauplatz, an dem sich „Manon“ abspielt, wird durch Bühnenbilder und Kostüme, die die Atmosphäre der jeweiligen Epoche vermitteln, intensiv wiedergegeben – die Handlung dieses Balletts wird von der Regency-Ära in das späte 18. Jahrhundert, an den Vorabend der Französischen Revolution, verlegt, was es von der Romanvorlage unterscheidet. Nicholas Georgiadis ist der Schöpfer der eindrucksvollen Bühnenbilder und exquisiten Kostüme für dieses Ballett, die diese Produktion wahrhaft prächtig, überraschend und unvergesslich machen.

 Der Vorhang öffnet sich und wir betreten den Innenhof eines Hotels in einem Vorort von Paris. Hier wimmelt es von jungen Damen, Schauspielerinnen, Bettlern, Gaffern, dem reichen Herrn G. M., seiner Mätresse und seinen Freunden. Hier werden wir zum ersten Mal mit dem Bruder von Manon Lescaut bekannt gemacht, dessen Rolle von Artemiy Pyzhov getanzt wird. Es handelt sich um einen hervorragenden Tänzer mit außergewöhnlicher Technik und großem Ausdrucksvermögen. Er zeichnet sich durch hohe Sprünge und eine große Klarheit der Bewegungen aus und schafft es, durch sein Temperament und seine tänzerischen Fähigkeiten, die Aufmerksamkeit des Publikums zu fesseln. Herr Pyzhov spielt im wahrsten Sinne des Wortes mit dem Publikum und bringt uns durch kunstvolle Tanzbewegungen, schauspielerische Mimik und emotionale Ausdruckskraft mit ihm in Kontakt. Besonders einprägsam ist sein Auftritt zu Beginn des ersten Aktes, bei dem Herr Pyzhov mit seiner virtuosen Technik und der Sicherheit seiner Bewegungen einen bleibenden Eindruck hinterlässt. Ein anderer faszinierender Moment ist das Trio von Lescaut, Manon und Herrn G.M., in dem uns Manon als ein völlig wehrloses Mädchen erscheint, das sich in die Verwicklungen ihres Bruders verstrickt. Seine Interaktionen mit Manon und Herrn G.M. sind voller Spannung und Dramatik. Dieser Tanz wird zu einem lebendigen Spiegelbild der komplexen Beziehung zwischen den Figuren und macht dieses Trio zu einem der emotional intensivsten und denkwürdigsten Momente des ersten Aktes. Bravo, Artemiy Pyzhov!

 Ein interessanter Aspekt von “Manon” ist das Vorhandensein von drei männlichen Hauptrollen, was es von vielen klassischen Balletten unterscheidet, in denen es normalerweise nur eine männliche Hauptfigur gibt. Diese Tatsache verleiht der Aufführung zusätzliche Komplexität und Tiefe und zeigt uns drei sehr unterschiedliche menschliche Naturen. Jede von ihnen repräsentiert einen anderen Aspekt der Gefühlswelt der gezeigten Charaktere, was interessante Kontraste schafft und die Gesamtdynamik des Stücks ergänzt. Lescaut ist einerseits der Inbegriff von Leidenschaft, Stärke und Intensität. Sein Tanz ist voller Energie und Dramatik und spiegelt die inneren turbulente Gefühle der Figur wider. Herr G.M. ist das Bild eines kultivierten und herrischen Aristokraten, hinter dessen äußerer Ruhe sich komplexe innere Konflikte und Leidenschaften verbergen. Des Grieux wiederum ist das Abbild eines Aristokraten, der vielleicht sogar etwas naiv, verwöhnt und verletzlich wirkt, aber bereit ist, seiner Liebe zu folgen und dafür Opfer zu bringen. Oftmals wird Des Grieux sogar als ein Narr, der jemandem folgt, der es nicht wert ist bezeichnet – aber heute Abend sehen wir auf der Bühne einen verliebten Romantiker und einen Träumer, der nicht bereit ist, seine Liebe aufzugeben. Konstantin Korotkov gelingt es auf ungewöhnliche Weise, diesen romantischen und leidenschaftlichen jungen Mann zu zeigen, der von seinen Träumen geprägt ist und sich auf den ersten Blick in Manon Lescaut verliebt. Seine präzisen Bewegungen scheinen von einem zum anderen zu fließen, und mit Hilfe seines Tanzes im ersten Akt erklärt er Manon seine Liebe. Durch seine ungewöhnlich präzisen Pas und anmutigen Handbewegungen erschafft er den Eindruck, als würde er Stoffe aus feinster Seide in der Luft weben, und an diesem Punkt wird sein Tanz zu einer ganzen Liebesgeschichte, die Manons Zuneigung sicher einfängt.

 Sicherlich erwarten das Publikum an diesem Abend – wie immer bei “Manon” – jene vier Pas de Deux, die das Markenzeichen dieses Balletts sind. Das erste Duett der Protagonisten im ersten Akt zur Musik der „Elegie“, die das musikalische Thema der Liebe in diesem Ballett ist, symbolisiert die Anfänge ihrer Liebe und Leidenschaft. Konstantin Korotkov und Tatyjana Melnik gelingt es, ihr ganzes Talent und Können in den komplexesten technischen Elementen zu zeigen, die mit unglaublicher Geschwindigkeit und hohen Stützen ausgeführt werden. Im zweiten Duett schwören die Figuren ihre Liebe. In diesem Moment beeindrucken die Tänzer weiterhin mit ihrem Können und ihrer Ausdruckskraft und reflektieren die komplexen Emotionen ihrer Figuren. Es herrscht eine außergewöhnliche Aufrichtigkeit und wahre Leidenschaft zwischen ihnen, und die schwindelerregenden Bewegungen, die sich abwechseln, vermitteln die Gefühle und die innere Welt ihrer Figuren und lassen das Publikum jede Minute mit ihnen erleben. Bravo, Konstantin Korotkov!

 Einerseits ist Manon voller aufrichtiger Liebe, andererseits lässt sie sich leicht von den teuren Steinen und luxuriösen Kleidern hinreißen, die Herr G.M. ihr anbietet. Und nun, im zweiten Akt, sehen wir Tatyjana Melnik in neuen Facetten ihres tänzerischen Charakters – aus dem zerbrechlichen, verliebten jungen Mädchen wird eine Verführerin und eine verhängnisvolle Schönheit. Sie flirtet leicht mit allen Männern und tanzt mit ihren Verehrern. In Sarabande wird Manon buchstäblich von einer Hand an die andere weitergereicht, aber Tatyjana Melnik gelingt es, das Bild der Manon mit Würde und Tiefe zu vermitteln, ohne in platte Stereotypen einer lüsternen oder vulgären Frau zu verfallen. Dank ihrer geschickten schauspielerischen Leistung und der perfekten technischen Umsetzung aller komplexen choreografischen Elemente verleiht Frau Melnik diesem Bild eine neue Dimension. Ihre Figur der verhängnisvollen Verführerin Manon zieht die Aufmerksamkeit des Zuschauers nicht nur durch ihre Schönheit und Leidenschaft auf sich, sondern auch durch ihre innere Welt und ihren seelischen Konflikt.

Im zweiten Akt sehen wir den dritten Pas de Deux in der Wohnung von Des Grieux, in dem sich die Liebenden gegenseitig ihre Gefühle gestehen. Dank Tatyjana Melniks wie Musik wirkende Bewegungen und ihre präzise Ausführung der Choreografie schwebt sie buchstäblich in der Luft und landet in die Hände von Des Grieux. Ihre Bewegungen sind umhüllend, flüssig und fließend, und es ist, als würde eine ganze Geschichte daraus entstehen. An Manons Hand glitzert geheimnisvoll ein juwelenbesetzter Armreif, der das Bindeglied zwischen einem reichen, zufriedenen Leben und der Liebe des armen Des Grieux bleibt – aber wofür wird sie sich entscheiden?

 Im letzten Akt kommen junge Frauen, die wegen Prostitution ins Exil geschickt wurden, in einem Hafen in Louisiana an. Unter ihnen ist Manon, die ihren Charme, ihr Funkeln in den Augen und ihr üppiges Haar verloren hat. Manons Reise durch die verschiedenen Etappen des Balletts, vom romantischen Anfang bis zum tragischen Finale, unterstreicht das Thema des Verlusts und der Desillusionierung. Das abschließende Duett in den Sümpfen von Louisiana, in denen sie mit Des Grieux zu fliehen versucht, wird für Manon zu einem Moment der Wahrheit, in dem sie sich der Kosten ihrer Entscheidungen und der Konsequenzen ihres Handelns bewusst wird. Es ist eine unglaublich kraftvolle, dreidimensionale Szene, die in dem Ausmaß ihrer epischen Bilder an einen Hollywood-Blockbuster erinnert. Manons ganzes Leben zieht vor ihrem Auge vorbei und wird auf der Bühne erneut dargestellt. Tatyjana Melnik gelingt es perfekt, das Bild dieser erschöpften, gequälten Manon wiederzugeben. Ihr Abschiedsduett mit Des Grieux ist voll von Sinnlichkeit und emotionaler Tiefe. Es gelingt ihr, alles – Verlust, Verzweiflung und Enttäuschung – durch gekonnte Plastizität und ihrer Mimik darzustellen. In hohen Stützen, Würfen mit doppelter Drehung in der Luft (dem so genannten „double fish“) und den komplexesten technischen Elementen offenbart sie ihr ganzes Talent und ihr Können. Brava, Tatyjana Melnik!

“Manon” gilt zu Recht als der Maßstab des modernen Tanzes und als Quintessenz des neoklassischen Balletts. MacMillans großartige dramatische Choreografie und die lebendige, komplexe Szenografie mit aufwändigen, detailreichen Kostümen werden uns noch lange in Erinnerung bleiben, ebenso wie die reichhaltige und einprägsame choreografische Darstellung der einzelnen Figuren. Dies ist ein wahrhaft funkelnder, bezaubernder Abend – Tanzkunst in ihrer zartesten Pracht!

Darina Leuer

 

 

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