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BONN: OBERST CHABERT von Hermann von Waltershausen

22.06.2018 | Oper

Szenenbild aus "Oberst Chabert"
Copyright: Oper Bonn/ Thilo Beu

Bonn: Oberst Chabert      von Hermann von Waltershausen

Premiere am 17. Juni 2018         Besuchte Zeitvorstellung am 21. Juni 2018

Nach dem Opernhaus mit dem mutigsten Spielplan dieser Saison befragt, müßte man vor allem das Theater Bonn nennen. Bei Gelegenheit der letzten saisonalen Produktion darf noch einmal aufgezählt werden: Schoecks „Penthesilea“, Reynolds Familienoper „Geisterritter“, Glass‘ „Echnaton“, Verdis “I Due Foscari“ und nun Waltershausens „Oberst Chabert“. Das ist – gesäumt von „Carmen“, „Schicchi“/“Tabarro“ und „Figaro“ –  eine kaum noch steigerbare Pflege von Außenseiterwerken. Was die „Chabert“-Oper betrifft, so muß man sich wirklich an den Kopf fassen, daß dieses fesselnde Werk seit 1933 ansonsten keine Bühnenaufführung mehr erfuhr. Das halbszenische Unternehmen in Berlin 2010 ist bestenfalls als Sprungbrett zu betrachten.

Waltershausen hatte 1926 eine prekäre Begegnung mit dem nachmaligen deutschen „Führer“, welche ihm dessen anfängliche Sympathie gründlich verdarb. Hitler war wohl auf einen Text des Komponisten gestoßen, welcher den musikalischen Einfall als in „völkischer Gemeinschaft“ verwurzelt bezeichnete. Aber diese Formulierung sollte – nur so viel an dieser Stelle – nicht einseitig politisierend ausgelegt werden. „Oberst Chabert“ teilte ungeachtet einer ersten rauschhaften Erfolgswelle (rund 100 Inszenierungen)  das Schicksal vieler Bühnenwerke, denen nazistisches Aufführungsverbot auch nach 1945 rezeptionell zu schaffen machte. Eine vergleichbare Situation in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg wäre ein eigenes, individuelles Kapitel. Längst gilt es also, massive Wiedergutmachung zu leisten.

Daß man Waltershausens „Oberst Chabert“ nun erstmalig in einer vollgültigen Inszenierung in Bonn erleben kann, ist nichts Geringeres als ein Großereignis. Man verdankt es dem Operndirektor ANDREAS K. W. MEYER, 2010 in Berlin tätig wie auch der Dirigent JACQUES LACOMBE, welcher mit dieser Oper übrigens nach zwei Jahren seinen Abschied von Bonn nimmt. Gastweise hatte er sich vor Ort mit einer anderen Rarität, nämlich Rezniceks „Holofernes“ eingeführt. Während diese Produktion Skepsis hervorrief, darf „Oberst Chabert“ als überaus glückhafter Wurf gelten und sollte – so ist aufs Dringlichste zu hoffen – endlich neue, nachhaltige Repertoirechancen erhalten.

Bildergebnis für oper bonn oberst chabert
Copyright: Thilo Beu

Was genau den Auslöser für die Wiederaufführung an der Deutschen Oper war, wird nirgends mitgeteilt, aber mit Sicherheit spielte die Erinnerung an die letzte vornazistische Premiere am 6. März 1933 am gleichen Theater (damals Deutsches Opernhaus geheißen) eine Rolle. Mit den beiden halbszenischen Vorstellungen am 26. Und 28. März 2010 sollte es in den Augen von Lacombe/Meyer aber nicht sein Bewenden haben, und so griff man – beide Herren begegneten sich in Bonn wieder – erneut auf das Werk zurück und initiierte nunmehr eine vollgültige Bühneninszenierung. Die Premiere wurde stark gefeiert, die greifbaren Rezensionen waren geradezu hymnisch, sowohl das Werk als auch die Produktion betreffend. In der gesehenen zweiten Vorstellung war das Auditorium zwar nicht eben üppig besetzt (stand zu erwarten), aber auch diesmal brach sich Begeisterung vehement Bahn.

Den Stoff für seine Oper übernahm der Dichterkomponist Waltershausen aus einer 1832 erschienenen Erzählung von Honoré de Balzac. Sie macht die Schlacht 1807 bei Preußisch-Eylau zu ihrem Ausgangspunkt, eine der vielen Kampfstätten im Vierten Koalitionskrieg, den Napoleon führte. Chabert wird verwundet, für tot gehalten und in einem Massengrab beerdigt. Aus diesem vermag er sich zu befreien und wird von einer Bauersfrau gesund gepflegt. Der größte Wunsch Chaberts ist es, nach Hause und zu seiner Frau Rosine zu gelangen. Aber nirgends nimmt man ihm seine Identität ab, sperrt ihn  als vermeintlichen Lügner sogar hinter Gitter. Erst unter anderem Namen gelingt ihm die Heimkehr. Rosine, neu vermählt mit dem Grafen Ferraud und Mutter zweier Kinder, gibt vor, ihn nicht zu (er)kennen. Mit Hilfe des Advokaten Derville und des Korporals Godeschal, welcher die Identität seines ehemaligen Obersts bestätigt, versucht Chabert, sich sein Existenzrecht zurückzugewinnen.

Die Charaktere Rosines und Ferrauds hat Waltershausen in seiner Oper „veredelt“. Rosine ist bei ihm nicht mehr die lediglich auf materielle Güter schauende Karrieristin, sondern eine ihrer Emotionen immer unsicherer werdende Frau. Sie hängt leidenschaftlich an ihrer jetzigen Ehe und an ihren Kindern, entdeckt aber auch (wieder) die Charaktergröße ihres früheren Mannes, den sie nicht eben glücklich mit 17 Jahren ehelichte. Das Geständnis, ihn nie geliebt zu haben, ist freilich als Schutzbehauptung zu werten. Ganz eindeutig sind ihre Gefühle nicht, und diesem emotionalen Schwanken entzieht sie sich durch freiwilligen Gifttod. Zuvor hat sich bereits Chabert in dem Bewußtsein erschossen: „Es ist Gesetz vom allerhöchsten Gott, daß Tote nicht mehr wiederkehren sollten.“ Diese erschütternde Erkenntnis ist unschwer auf heutige Kriegssituationen zu projizieren.

Waltershausen läßt sich das von aussichtloser Leidenschaft geprägte Verhalten seiner Opernprotagonisten in emphatischer Rhetorik ausleben. Melodische Intensität und expressive, farbglühende Harmonik bestimmen den Gestus seiner Musik. Man wird sich beim Hören bewußt, daß zur gleichen Zeit Richard Strauss, Erich Wolfgang Korngold, Franz Schreker oder auch Alexander Zemlinsky wirkten. Dennoch besitzt Waltershausens Musiksprache einen individuellen Tonfall, welcher oft regelrecht überwältigend wirkt. Das BEETHOVEN ORCHESTER BONN trägt unter dem vehementen Dirigat von Jacque Lacombe zu diesem Eindruck machtvoll bei.

Der belcanteske Charakterbariton von MARK MOROUSE verleiht der Titelfigur großformatigen Umriß, seine ständige Präsenz (an Krücken) wirkt während der hundert pausenlosen  Aufführungsminuten beklemmend.  YANNICK-MURIEL NOAHs Rosine ist ein einziges Sopranlodern, doch finden auch zartere Regungen dieser Frau berührenden Ausdruck. Als Ferraud hat PETER TANTSITS (vor kurzem bei den Kölner „Soldaten“ mitwirkend) beängstigende tenorale Höhenflüge zu bewältigen und meistert diese souverän, freilich mit etwas gepreßt wirkendem Timbre. Markante Leistungen bei den Nebenfiguren: GIORGIOS KANARIS (Derville) und MARTIN TZONEV (Godeschal). Selbst der kurze Anfangsauftritt von DAVID FISCHER (Boucard, Gehilfe bei Derville) hat Format.

Bei der Besprechung von Opernproduktionen ist es heutzutage Norm geworden, als Erstes auf den Regisseur einzugehen. Im Falle von ROLAND SCHWAB kann man sich das versagen. Man könnte seinen Stil als primär konservativ bezeichnen, aber er wird durch expressive Führung der Sänger wirkungsvoll aufgeladen. Bei Schwab gibt es nirgends ein unangenehmes „zu viel“. In seiner inszenatorischen Einfachheit und Geradlinigkeit liegt individuelle Größe.

Das Bühnenbild von DAVID HOHMANN (ergänzt durch stimmige Kostüme RENÉE LISTERDALs)  besteht aus einer bizarren Trümmerlandschaft, welche einen großen Durchblick zum Hintergrundprospekt ermöglicht,  auf welchem Videos ablaufen: aktengehäufter Raum, zerbomte Stadt (sie könnte in Syrien liegen) u.a. Diese (vielleicht etwas zu konkreten) Bilder drehen sich, sorgen für sanfte, aber auch bohrende Bewegungskontinuität. Die Projektionen von Himmel und Wolken erwecken allerdings kaum griffige Assoziationen, und das Feuerwerk bei der großen Szene von Chabert und Rosine gerät fraglos zu plakativ. Auch der Auftritt von Rosines Kindern samt Gouvernante  wäre entbehrlich gewesen. Kleine Schönheitsfehler – rasch vergessen. Großartig zuletzt, wie sich eine Chabert-Projektion immer stärker aufbläht, ein visuelles Mahnmal.

Über weitere Bühnenwerke von Waltershausen informiert Heinz Wagners Opernführer: „Richardis“ und „Rauensteiner Hochzeit“ (beide 1919). Mit „Die Gräfin von Tolosa“ beendete der Komponist 1936 sein Schaffen. Der 1882 Geborene  starb 1954 in München, wo er als angesehener Musikpädagoge wirkte (Schüler u.a. Eugen Jochum und Wilhelm Killmayer). Eine konzertante Aufführung der „Gräfin von Tolosa“ 1958 durch den Bayerischen Rundfunk (Mitschnitt erhalten?) sollte einer der wenigen Nachkriegsehrungen für Hermann von Waltershausen darstellen.

Den Berliner „Chabert“ gib es als CD-Mitschnitt und auf Youtube (komplett und in vielen Ausschnitten). Eine nicht näher datierte, aber vermutlich Anfang der fünfziger Jahre entstandene Gesamtaufnahme mit dem Österreichischen Tonkünstlerorchester unter Frederick Charles Adler (Solisten: Otto Wiener, Gertraud Hopf, Julius Patzak, Franz Fuchs) wurde 2014 auf dem Label Walhall veröffentlicht. Eine Chabert-Arie hat der Bariton Hugh Beresford mit den Münchner Philharmonikern unter Joseph Strobl aufgenommen (Youtube). Ergänzender Hinweis auf den 1994 entstandenen Film „Le Colonel Chabert“ („Die Auferstehung des Colonel Chabert“) mit Gérard Depardieu in der Titelrolle, Regie: Yves Angelo.

 

Christoph Zimmermann

 

 

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