BONN: Ural Philharmonic Orchestra beim Beethovenfest Bonn
UNGLAUBLICHE SCHWUNGKRAFT UND EKSTASE
Ural Philharmonic Orchestra beim Beethovenfest in der Beethovenhalle am 17. September 2016/BONN
Mit der elegant musizierten Ballettmusik zu „Die Geschöpfe des Prometheus“ von Ludwig van Beethoven begann dieses besondere Konzert im Rahmen des Beethovenfestes Bonn. Die Ouvertüre bestach mit der Herausarbeitung der kunstvollen Themen und ihrer Verarbeitung. Vor allem das vielgeprüfte Variationenthema aus dem Schluss-Satz der „Eroica“ ging hier unter die Haut. Vieles erinnerte an den ersten Satz der ersten Sinfonie. Nach der betont langsamen Einleitung erklang das heiter bewegte Thema. Und das Allegro eilte in unaufhaltsamem Fluss dahin. Langsam erwachte das Leben, neue Gedanken traten in den Seitenthemen hinzu, alles steigerte sich zum jubelnden Schluss. Unter der impulsiven Leitung von Dmitri Liss musizierte das Ural Philharmonic Orchestra jedenfalls wie aus einem Guss und in höchst souveräner Weise. Viele Details hörte man neu. Ein eher langsames Tempo wählte Liss dann bei Alexander Skrjabins „Promethee. Le Poeme du feu“ als symphonische Dichtung für großes Orchester, Klavier und Orgel op. 60. Die meist eintaktigen Motive gewannen durchaus breiteren Themenfluss, verschwommen ineinander, wurden ekstatisch aufgepeitscht und kehrten in vielfach wechselnden Farben ständig wieder zurück. Der versierte Pianist Andrei Korobeinikov betonte bei seiner gelungenen Wiedergabe zusammen mit dem einfühlsamen Dirigenten Dmitri Liss die avantgardistischen Tendenzen. Vierfaches Holz, acht Hörner und fünf Trompeten entfalteten auch in der Beethovenhalle eine gewaltige Wirkung. Der symphonische Chor der Philharmonie Ekaterinburg (Leitung: Andrei Petrenko) sang auch mit geschlossenen Lippen. Man spürte, dass Skrjabin hier vor Schönberg ein neues System anstrebte. Der geheimnisvolle Akkord des Beginns konnte sich so vertikal und horizontal in eindringlicher Weise entfalten – auch wenn das legendäre Farbenklavier fehlte. Und dieser Grundakkord A-Dis-G-Cis-Fis-B schien sich hier in grandioser Weise immer weiter aufzufächern. Wie ein riesiger Pfau demonstrierte das Ural Philharmonic Orchestra schließlich seine dynamische Riesenkraft in einem rasenden Fis-Dur-Rausch. Auch das erste Thema, das in den gestopften Hörnern erklang, konnte sich bei dieser Wiedergabe gut behaupten. Arabesken und Kaskaden unterstrichen dabei differenziert den komplizierten und aufrauschenden Klavierpart. Die okkulten Momente des Spätromantikers Skrjabin wurden bei dieser konzentrierten Wiedergabe jedenfalls nicht verleugnet. Dmitri Liss gelang es, selbst geringfügige Intonationstrübungen der Bläser fast unhörbar zu machen, weil das Orchester ganz und gar im wahrhaft leidenschaftlichen Spiel versunken war. Von grandioser Wirkungskraft war außerdem die Interpretation der Kantate zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution auf Texte von Marx, Engels und Lenin für großes Orchester und Chor op. 74 aus dem Jahre 1937 von Sergei Prokofjew. Prokofjew wurde hier des Opportunismus‘ beschuldigt, weil er auch einen Text Stalins im Rahmen eines Nachrufs für Lenin verwendete. Dem Orchester wird eine Militärkapelle hinzugefügt, was die unglaublich revolutionäre Modernität dieser Musik nur noch steigert. Die Vor- und Zwischenspiele mit Titeln wie „Philosophen“ und „Revolution“ gipfeln immer wieder in einem lärmenden Tumult, wobei auch melodiöse Klangfarbenspiele des Chores überzeugen. Dabei konnte der symphonische Chor der Philharmonie Ekaterinburg sein großes Können einmal mehr unter Beweis stellen. Ungeheure Staccato-Schläge und dämonische Sequenzen verstärkten bei dieser meisterhaften Wiedergabe in erheblicher Weise den Charakter der Bedrohung, die immer mehr zuzunehmen schien. Dmitri Liss hatte die tosenden Elemente aber voll im Griff und trumpfte mit dynamischen Steigerungen auf. Gerade bei der „Elften Feuerbachthese“ zeigte der Chor eine große Charakterisierungskunst. Ein markantes Soldatenlied meldete sich dann bei Lenins Schulungstraktat „Was tun?“
Im Stil einer Oper erschien schließlich der höchst eindrucksvolle „Revolutions“-Teil. Kampfszenen und Massenlieder gipfelten in Sirenenklängen, die bereits an Edgar Varese denken ließen. Russische Melismatik, farbige Harmonik und rauschhafte Rhythmen verschmolzen mit intensiven Kantilenen. Nach Tremolo-Exzessen der Streicher setzte sich zudem der lyrische Charakter im Chor ganz und gar durch. Ein triumphales Pathos beherrschte den Lobpreis der Stalin-Verfassung von 1936, wobei man begriff, warum diese Kantate auch als „monumentale Satire“ bezeichnet wurde. Die Gefahr des Auseinanderfallens einzelner Motive und Themen konnte allerdings auch diese hervorragende Interpretation nicht bannen. Der draufgängerische Elan Prokofjews schoss wiederholt übers Ziel hinaus, setzte sich über alle Fesseln der Tonalität hinweg und riss die Zuhörer unmittelbar mit. Trotzdem beeindruckte Prokofjews in Deutschland so gut wie nie gespielte Kantate zur Oktoberrevolution als ein großartiges Werk stürmischer Leidenschaften der Völker.
Es gab zuletzt orkanartige Ovationen im Publikum für dieses 1936 gegründete Orchester, das als eines der besten in Russland gilt.
Alexander Walther