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BOCHUM/ Ruhrtriennale: ALCESTE von Christoph Willibald Gluck. Premiere

13.08.2016 | Oper

BOCHUM / Ruhrtriennale: ALCESTE von Christoph Willibald Gluck. Premiere
am 12.8. 2016 (Werner Häußner)

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Copyright: Ruhrtriennale

„Frei“ und „Tod“ steht auf dem Programmheft zur Eröffnungsinszenierung der Ruhrtriennale 2016. Verbunden durch ein Plus-Zeichen. Und in der Tat geht Alceste in Christoph Willibald Glucks gleichnamiger musikalischer Tragödie frei in den Tod. Es ist kein Suizid, der verharmlosend als „Freitod“ zu bezeichnen wäre. Es ist ein bewusstes Annehmen des Todes für einen anderen Menschen: Admeto, ihr Gatte, König von Thessalien, liegt in unabwendbarem Sterben – aus Gründen, die uns das Libretto Ranieri de‘ Calzabigis nicht erklärt. Und die Götter orakeln, er könne einzig gerettet werden, wenn ein anderer Mensch sich für ihn opfere.

Johan Simons eröffnet seine zweite Ruhrtriennale mit Glucks monumentalem Stück, dessen Inhalt so mehrdeutig wie verstörend wirkt. Ein Stück voller Rätsel, das sein Geheimnis nicht preisgeben will, wie der polnische Literaturkritiker Jan Kott im Programmheft zitiert wird. Ein Geheimnis, das auch Johan Simons Regie in der Jahrhunderthalle in Bochum nicht lüftet. Am Ende, nach dreieinhalb Stunden ungestrichener Musik und dramatischer Reflektion, tanzen die beiden Kinder Alcestes und Admetos ausgelassen auf der schwärzlich spiegelnden Spielfläche.

Freude über ein – von Simons nicht gezeigtes – glückliches Ende, im dem Apoll, der Gott des Lichtes und der Vernunft, ein Einsehen zeigt und den barbarischen Götterspruch außer Kraft setzt? Freude über ein Ende der Herrschaft der Überirdischen mit ihren vernunftwidrigen Gesetzen und Sprüchen, erleuchtet vom Licht der Aufklärung (Dennis Diels ist dafür verantwortlich), das Bühnenbildner Leo de Nijs wie eine ferne Verheißung von außen hereindringen lässt? Simons lässt die Lösung offen und entlässt die Zuschauer in die Mühe, sich selbst zu erklären, was diese „Alceste“ nun für die europäischen Werte bedeutet, die bei dieser Triennale eingefordert und herausgefordert werden sollen. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, die Schlagworte der französischen Revolution: Sie werden mit Fragezeichen versehen.

Simons will die europäischen Werte und ihre Wurzeln in der Aufklärung befragen. Das ist ehrenwert, aber er vergisst dabei, dass es Aufklärung ohne die geistige Basis des Christentums – und sicher auch die vehemente Auseinandersetzung mit dem Christentum – nicht gegeben hätte. In der Geisteskultur des 18. Jahrhunderts, auf die sich Gluck und Calzabigi beziehen, sind die antiken Götter als Allegorien ambivalent, können ebenso christlich-theologisch konnotiert werden wie sie als Lichtgestalten im Kampf gegen Unvernunft und Aberglauben den rationalen Geist repräsentieren.

Aber über historische Argumente hinaus: Wer heute „europäische Werte“ reklamieren will, sollte sich eigentlich auch auf die Rolle des Christentums in der Ausgestaltung eines Wertekanons beziehen. Das lässt die Triennale vermissen, darüber führt der Auftritt des Chors MusicAeterna aus Perm mit geistlicher Musik von Thomas Tallis bis György Ligeti oder das Konzert mit Bachs h-Moll-Messe (am 13. September mit dem Collegium Vocale Gent unter Philippe Herreweghe) nicht hinaus. In der Kenntnisnahme dieses Aspekts – mit aller kritischen Konsequenz – läge eine Chance, dem Mainstream zu entkommen, der in der Debatte um die Grundlagen einer europäischen geistigen Kultur die christlichen Anteile entweder weitgehend ausblendet oder lediglich als Folie einer ranzig gewordenen Kirchenkritik verwendet.

Dabei sind – wenn man so lesen will – theologische Aspekte der Gluck’schen „Alceste“ zumal in der in Bochum gezeigten italienischen Erstfassung von 1767 deutlich festzustellen: Schon eingangs formuliert Evandro, der Vertraute des todgeweihten Königs, eindringlich die Frage der Theodizee, der Gerechtigkeit Gottes: Warum strahlt über den Tyrannen heiteres Glück, während die Gerechten an der Kette des Unglücks stöhnen? Admeto verschärft die Kritik: Allzu ungerecht nennt er die Götter, „strano“ ihren Willen – und man darf das italienische Wort in diesem Zusammenhang sicher in seiner stärksten deutschen Entsprechung mit „abwegig“ übersetzen. Die Götter spielen mit den Menschen, so seine Erkenntnis, achten weder Tugend noch Unschuld.

Während die Geister der Unterwelt unbeirrbar ihrem Auftrag folgen – die unerbittliche Faktizität des Todes kleidet Gluck in hochexpressive Musik, setzt drei Posaunen ein –, verkündet Apoll die Gnade des Himmels: Das großherzige Opfer Alcestes gefalle den Göttern; zwei so zärtlich Liebende haben ein besseres Schicksal verdient. Zumal Apoll als aus dem Olymp Verbannter einst die Gastfreundschaft Admetos genossen habe.

Da haben wir die aufklärerische Botschaft: Apoll, das Licht der Vernunft und der Menschlichkeit, durchbricht den irrationalen, schicksalhaften Ablauf, vorgegeben durch die Willkür eines unhinterfragbaren Orakels. Aber steckt in Glucks Alceste nicht mehr? Die absolute Macht des Todes bezwungen durch die Liebe und aufgelöst durch einen gnädigen Gott, der sich den Menschen zuneigt? Schon in der Antike diente Orpheus als Sinnbild für Christus, der die Verstorbenen aus dem Reich des Todes holt. Ist es zu weit hergeholt, auch für Glucks Oper dieses Sinn-Zusammenhang zu sehen? Apoll wäre dann nicht alleine das Licht einer aufgeklärten Vernunft, sondern auch Anspielung auf eine christliche Hoffnung.

Simons, nach eigenem Bekunden selbst ein Zweifelnder an der Existenz Gottes, zieht auch dieses Ende in Zweifel: Admeto und Alceste haben wohl keine Chance. Aber die tanzenden Kinder könnten sie haben: Die Hoffnung setzt auf Zukunft, auf das Ende der alten Schicksals-Zusammenhänge. Ein szenisches Zeichen legt diesen Schluss nahe: Die Masse weißer Plastik-Gartenstühle, die vorher die Szene füllten, sind auf zwei reduziert.

Diese Sitzmöbel wirken auf de Nijs‘ die ganze Länge der Industriehalle ausnutzenden Spielfläche zunächst wie eine abgeschmackte Zutat aus der Klischeekiste des Regietheaters. Aber ihr Einsatz erweist sich als konsistent: Immer wieder werden sie in unterschiedlichen Konstellationen gruppiert; ein Bild für den verzweifelten Versuch, Ordnung in das Chaos von Gedanken und Gefühlen zu bringen. Als das Orakel ertönt, rauscht von oben ein ganzer Berg der weißen Dinger wie eine Lawine herab: das ungeheuerlich Verstörende des dunklen, willkürlichen Spruchs bricht sich bildmächtig Bahn. Und als Admeto gesundet und die Welt scheinbar wieder in Ordnung ist, stellt der Chor zu einem der reizvollen instrumentalen Divertissements Glucks die Stühle säuberlich neu auf. Greta Goiris hat die Menschen auf der Bühne einfach und zurückhaltend gekleidet; Blumengebinde um den Kopf erinnern an antike Traditionen.

Auch Alceste sitzt, wenn sie den Prozess der bewussten Annahme des Todes in allen Gefühlsfacetten reflektiert, auf einem Stuhl – ein Signal, dass diese Frau die „Erdung“ nicht verloren hat. Birgitte Christensen meidet jeden Anflug heroinenhafter Monumentalität, spielt die existenzielle Zerrissenheit, die Flut widersprüchlicher innerer Impulse aus, kann sie in einer wandlungsfähigen Stimme repräsentieren, die freilich stellenweise zu exaltiert vibriert, beständiger gestützt und in der Höhe weniger eng geführt sein könnte.

Simons nutzt in der Führung der Personen die Breite der Szene voll aus, füllt damit den Raum als Ausdrucksmittel für Nähe und Distanz, Anziehung und Abstoßung. So stehen Admeto und Alceste weit auseinander, wo nur vermeintlich Nähe gefordert ist. Simons misstraut in solchen Momenten der Eindeutigkeit des Librettos und leuchtet tiefer auf den Grund der Seelen. Thomas Walker ist ein Darsteller, der aus dem oft als oberflächlich missverstandenen Admeto eine differenzierte Persönlichkeit macht, als Sänger aber mit einer qualligen Tongebung und entsprechend zwischen gaumig und kehlig rutschenden Vokalen nicht überzeugt.

Auch der junge Anicio Zorzi Giustiniani, als Evandro darstellerisch präsent, platziert die Töne – bei durchaus ansprechendem Timbre – nicht ideal. Kristina Hammarström als Ismene zeigt, wie’s geht: Sie singt ausgeglichen und formvollendet, ohne damit die Expression zu vernachlässigen, wie es das Ideal des Belcanto fordert. Als gewandter und fabelhafter Darsteller zeigt sich Georg Nigl. Ob als Herold, als Priester, als Unterweltsgott oder schlussendlich als Apoll – er macht aus den Figuren Facetten des einen Prinzips, tönt grell rhetorisch wie Loge im „Rheingold“ und turnt schnell artistisch wie ein mephistophelischer Spielmacher durch die Reihen. Viktor Shapvalov gibt dem Spruch des Orakels eine warmtönende Bassfärbung, die viel zu schön für den kruden Spruch ist.

Trotz aller historisch informierter Bemühungen ist bis heute das Vorurteil zu hören, Glucks Musik sei zwar musikgeschichtlich bedeutsam, ansonsten aber ein bisschen erhaben-langweilig und inzwischen in ihrer Simplizität auch nicht mehr so edel wie unter dem Winckelmann-Blick von einst. Nicht so bei René Jacobs und dem 2005 in Gent gegründeten B’Rock Orchestra. Gluck nutzte die Chancen, die ihm das Wiener Orchester bot und besetzte üppig – vom Chalumeau bis zu den Posaunen. Das Ergebnis ist ein farbig differenziertes Klangbild, das Jacobs, soweit es die Dimensionen des Raums zulassen, bravourös umsetzen lässt. Trotz behutsamer Verstärkung zumindest der Solisten hat die Halle ihre Tücken, lässt zum Beispiel den MusicAeterna Chor – wahrscheinlich abhängig vom Sitzplatz des Zuhörers – stellenweise auseinanderdriften. Dennoch: Jacobs demonstriert, nicht zuletzt mit einer ausgefeiten Regie der dynamischen Kontraste, dass man die expressive Kraft der Musik Glucks nicht unterschätzen sollte.

„Alceste“ eröffnete die Ruhrtriennale nicht so sehr mit einem Plädoyer in eine bestimmte Richtung, sondern mit einem Verweis auf die offene Frage, auf welchen Wegen wir uns der europäischen Werte neu versichern könnten. Aspekte möglicher Antworten sind eventuell aus den 23 Produktionen zu gewinnen, die bis 24. September an verschiedenen Orten des Ruhrgebiets gezeigt werden, unter anderem in ehemaligen Zechen und Stahlwerken, auf Halden und erstmals in der Kohlenmischhalle der stillgelegten Zeche Auguste Victoria in Marl. Informationen gibt es unter www.ruhrtriennale.de

Werner Häußner

 

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